WER IST DICHTER?

Als wäre es nicht schon verrückt genug, zu jemandem ins Auto zu steigen, den man überhaupt nicht kennt. Mit dem man noch keine zwei Sätze gesprochen hat. Und doch sieht man den Menschen hinterm Steuer des beige-gelben Autos als Retter in der müden Nacht, als Zuflucht vor der lauten Straße, als sicheren Begleiter Richtung Zuhause.

Vor fünf Minuten war ich noch Zuhörer eines Lyrikvortrages. Ein Dichter, ein Musiker, ein Schauspieler brachte mich in die Zielstraße. Hätte ich zwei Gläser Wein mehr intus gehabt, wäre ich entweder ob der einlullenden wohlklingenden Worte eingeschlafen oder in albernes Gegacker ausgebrochen. Ganz ernsthaft – ich habe soeben für 22 Euro drei Gedichte und Biografieauszüge von 1966 genießen dürfen, sechsfach ausgesprochene Buchempfehlung inklusive. Wahrscheinlich ist er einer, der nach zu vielen schrägen Fahrgästen beschloss, in die Offensive zu gehen: Bevor mich einer vollquatscht, rede ich! Und zwar ohne Luft zu holen.
Dabei war ich bisher stets ein harmloser Fahrgast. Schluckauf, leises Schnarchen, seltsame Gesprächsversuche („War Taxifahrer schon immer Ihr Traumberuf?“), eisiges Schweigen, unterdrücktes Schluchzen, hysterisches Gelächter, hymnisches Singen – für echte Taxifahrer Erdnüsse.
Eine Totalreinigung, kein Geld, keine Ahnung – das musste noch niemand mit mir durchmachen.

Die, die kein Radio anhaben und selbst bei Gesprächsversuchen („Ganz schön kalt geworden …“) schweigen, die sind mir am unangenehmsten. Da starrt man dann geschlagene dreißig Minuten aus dem Fenster und wühlt in Gegenwart eines Fremden in seinen Gedanken.

Und dann gab es da noch den, mit dem ich mich so angeregt unterhielt, dass er versehentlich zur falschen U-Bahn-Station fuhr. Oder der Jazzmusiker aus Amerika, der mich morgens um 5 Uhr zum Flughafen kutschierte, der Inder, der seit Jahren davon träumte, mehr Geld zu verdienen und nachts mehr bei seiner Familie zu sein, die nette Frau in Berlin, die das Taxameter ausstellte, bis wir unser Restaurant gefunden hatten – und heute nun die Krönung: Goethe und Ringelnatz in Persona.

Hat nicht jeder seine Taxigeschichte? Und hat nicht jeder Taxifahrer eine Geschichte?

Die Engagierten

„Hast Du schön gehört? Frau B., Frau S. und Frau R. sollen wohl die Klassenlehrerinnen werden.“ „Naja, Frau B. wäre ja eine Katastrophe, da muss man sich ja überlegen, ob man wirklich an dieser Schule bleibt …“ Ich komme aus dem Staunen nicht mehr heraus. Und ich bin unterversorgt, ein Informationsdefizit zieht sich durch meinen Alltag. Kann das schaden? Oder bewahrt es mich vor hohem Blutdruck, hektischen Flecken und Gift und Galle? Wenn ich glaubte, der Kindergarten sei ein Kosmos der Engagierten, schwant mir, dass ich in den nächsten vier Jahren meine Lektion lernen werde.

Im Kindergarten meines Sohnes war ich ein Jahr lang Elternvertreterin. Aus der Not heraus. Die Dame, die das Amt eigentlich ausfüllen sollte, ich nenne sie mal „Bimmelim“ – weil sie eigentlich so belanglos ist und einen kreativen Schimpfnamen nicht verdient hat – verpestete die fröhliche Kindergartenluft dermaßen, dass sie nach einem Eklat mit großem Auftritt und dramatischer Kopfbewegung ihr Amt niederlegte. Bis dahin ging es um Banalitäten und um konstruierte Probleme, auf Bimmelims Konto gingen Lästereien, ständige Beschwerden bei und über die Erzieherinnen, unverschämte, sehr lange Schimpftiraden per E-Mail und dann schafften sie und eine andere Mutter es, sich lauthals im Flur anzubrüllen, sodass die Kindergärtnerin sie bitten musste, dies doch draußen zu tun – und nicht vor den Kindern. Erstaunlich, dass man erwachsene Menschen auf so etwas aufmerksam machen muss.
Und nun saßen da rund 18 Frauen und drei staunende Männer am Tisch und fragten in die Runde, wer das Amt übernehmen möchte. Schweigen. Eine andere Mutter, die ich sehr mag, erklärte sich nach zähen Minuten der Stille bereit, schaute mich an, ich zuckte mit den Schultern und meinte: „Kann ja nicht so schwer sein.“ Wahl gewonnen. Böser Blick von Bimmelim.
Als ich an einem Abend danach die Elternvertreterin einer andere Gruppe zwanzig Minuten nicht vom Hörer bekam, weil sie eine Initiative gegen den ständigen Heizungsausfall starten wollte (zwei Mal, drei Mal?), überlegte ich kurz, einfach aufzulegen. Mit rotgequatschtem Ohr hoffte ich auf bessere Zeiten, wenn die Schule losgeht. Nicht so emotional, nicht so beschützend sind die Mütter da, dachte ich, die Kinder selbstständiger, viele Mütter arbeiten und haben gar keine Zeit, sich ständig das Maul zu zerreissen. Die Rechnung habe ich ohne „Die Engagierten“ gemacht. Die wissen alles. Und die stehen in immer denselben Grüppchen vor der Schule und debattieren sich die Schultergelenke lahm. Bisher konnte ich an der aufgeheizten Luft nur schnuppern, doch ich befürchte, ab der ersten Klasse versengt sie einem die Augenbrauen, wenn man den Kopf nicht schnell genug einzieht. Ich bin gespannt. Countdown sieben Monate.

Babes in Berlin

Sehr entspannt sehe ich Steffi zu, wie sie den Obstspieß in ihrem Bellini zwei Mal im Kreis rührt, reflexartig fange ich ebenfalls an zu rühren. Dass Schaumwein seinen Namen verdient, bemerken wir eine Sekunde später, als der apricotfarbene Drink über den Glasrand läuft und runde Seen auf dem Tisch hinterlässt. Uncool in zwei Sekunden. Und das auch noch in Berlin. Die Bedienung rührt verbal noch einmal um: „Ja, wat meint ihr denn – deshalb sitzt Ihr ja och in der hinteren Ecke, wa?“ Lacht – und ab. Wir lachen mit. Und trinken schnell aus.

Wenn man als Hamburger meint, in einer Großstadt zu leben, sollte man dringend nach Berlin fahren. Um mal ein Wochenende in einer Großstadt zu leben. Ich liebe Hamburg. Eine geborene Krabbenschubserin bin ich, eine Küstenlady, eine Kutterbraut, ich liebe die Döntjes und die Tüdelbüdel, und selber dumm Tüch schnacken – doch Hamburg ist ein salziges Dorf, keine scharfe Stadt. Und damit stimme ich nicht in das Gestöhne der Kulturköpfe mit ein, die einmal erklären „Hamburg ist tot“ und dann mal wieder „Stadt XY ist tot“ oder auch gern „Hier oder dort ist der Place to be“. Interessiert mich nicht. Hamburg ist meine Heimat. Die kann nicht tot oder lebendig sein.
Aber zurück zur Großstadt, zurück zum bunten B.
Berlin ist für uns nach wie vor ein Understatementphänomen. Friseur Dennis Creuzberg? Einfach bei diesem unscheinbaren Mietshaus ganz oben klingeln, und hinter einer noch unscheinbareren Tür stehen wir im schicken Frisurenatelier – fusselig rein, perfekt gestylt wieder raus, drei Zentimeter überm Boden schwebend, da wir „Nicht muttimäßig aussehen“ und „Die Frisur zu den lässigen Klamotten passen sollte.“ DANKE. Danke. Danke. Und das von 25jährigen gut aussehenden Männern. Wie nett. Oder Mitleid. Oder die Jungs wissen, wie man Trinkgeld macht. Auch okay.

Nach Kichererbsenteller und interessantem Gespräch mit einem Kreativen aus New York City, der lieber in Berlin leben möchte, gehen wir ins Hotel.
Motel One hatte ich eigentlich in guter Erinnerung – man weiß was man bekommt, es liegt zentral, hat immer die gleiche Qualität zu einem günstigen Preis. Aber erster Stock zur Straße ist nicht ideal … Na ja, wollen wir mal nicht rumzicken. Fenster bleibt zu, die Klimaanlage an. Aber wieso ist es so warm hier? Das Rad an der Klimaanlage klickt zuverlässig wenn ich es unter 22 Grad drehe – AUS. Bei der Rezeption erklärt man mir, dass die Anlage in den Wintermonaten nicht unter 22 Grad läuft, in dieser Zeit ist sie als Heizung zu verstehen.

Ein paar Stunden später haben wir die Wahl zwischen zwei Träumen.
Fensterzutraum: Wir sitzen im Latexanzug und von drei Daunendecken umhüllt in der 95-Grad-Sauna, Aufgusszeit.
Fensterauftraum: Unser Bett steht auf einer Verkehrsinsel, links neben uns drei Spuren stadteinwärts und rechts drei Spuren stadtauswärts. Die Luft ist kühl, doch Lichtblitze, Hupen und Motorengeknatter neben den Kopfkissen lassen uns denken, wir stünden mit unserem Bett auf einer Verkehrsinsel.

Wieder ein paar Stunden später stehe ich mit unvorteilhaftem Morgenstyling, roten Augen und tiefen Augenringen an der Rezeption und bettle um Mitleid und ein anderes Zimmer. Schlafmangel bringt nicht die besten Seiten in einem Menschen hervor, und perfide spiele ich mit Grabesstimme die Kinderkarte aus: „Seit sechs Jahren wenig Schlaf“, „Endlich mal ein Wochenende frei“, „Wenigstens hier durchschlafen“. Etwas viel Melodram, doch unser neues Zimmer liegt im 9. Stock zum Hof raus.

Unsere Sachen sollen wir im Gepäckraum zwischen lagern, unser neues Zimmer sei erst am Nachmittag frei. Der Mann, der uns das Gepäck abnimmt, wirkt über die Menge irritiert („Drei oder vier Paar Schuhe? Egal, pack alles ein, Steffi! Wir hauen den Kofferraum voll und von der Tiefgarage aus gibt es einen Fahrstuhl!“), bei einigen Taschen über das Gewicht und bei einer anderen über meinen Hinweis, er möge diese Tasche bitte nicht hinlegen, die Flasche darin stehe zwar recht sicher, sei aber offen.

Früher Nachmittag, wir schlendern durch die Neue Schönhauser Straße, gehen bei 14 oz. rein, und ich stolpere fast benommen von Kleiderständer zu Kleiderständer – so viel Schönheit in einem Laden ist kaum auszuhalten. Jedes zweite Teil könnte ich mitnehmen, mein Kleiderschrank würde wohlig ächzen, die Verkäufer und Verkäuferinnen – was für lässige, interessant aussehende Menschen. Eigentlich möchte ich doch nichts kaufen, ich möchte mich nur in den kuscheligen Sessel in der Ecke setzen und zuschauen; einfach da bleiben und hoffen, dass irgendetwas hiervon auf mich abfärbt.

In der Alten Schönhauser Straße angekommen, hocken wir uns vor die Ponybar in die Sonne, wir brauchen Alkohol statt Kaffee. Die Realität hier draußen trinken wir uns einfach genauso schön. Funktioniert. Meine Sitznachbarin hat tolle Schuhe an. Nachdem sie mir verraten hat, dass die von Isabel Marant sind (danke, Steffi, dass Du mir eine Woche vorher erzählt hast, wer das ist, und ich mich in dem Moment durch „Isa-wer“-Fragen nicht zum Obst gemacht habe), bekommen wir den besten Tipp des Wochenendes: den Secondhand-Laden im Hinterhof, drei Türen weiter.

Und nun geht es wieder zum Essen: Department Berlin. Noch ein Hinterhof, wieder ein unscheinbarer Eingang, wieder ein erstaunliches Innenleben. Im ehemaligen Postamt sitzen wir unter einem Kuppeldach und sehen später an der Bar stehend zu, wie die Tische weggeräumt werden, um fürs Tanzen Platz zu schaffen. Da kann das Licht so schummerig sein wie es will – hier sind alle deutlich jünger. Doch feiern können die nicht. Ein seltsamer Mix aus Diskoschlagern, Abba und ollen Kamellen läuft, die Mädels haben alle zu hohe Schuhe und zu freie Schultern, um sich entspannt bewegen zu können. Und dann kommt etwas, das habe ich ewig nicht gesehen: Sie legen ihre Taschen in die Mitte und die Püppies tanzen, nein, tänzeln im Kreis drum herum. Sieht doof aus. Ständig werden Tops festgehalten, Haare mit gespreizten Fingern zur Seite geschoben und kurz geguckt wer guckt, ab und zu stimmen sie alle in kleine hohe „Wuhuu!“-Kiekser ein. Waren wir in dem Alter etwa auch so? Wie laaaangweilig! Zurufen möchte ich ihnen: „Gebt Gas! Seid jung, schert Euch nicht um Eure Haare, nehmt ne Schicht vom Gesicht und bewegt Eure Hintern vernünftig!!“ Und dann ordern wir noch einen Borgmann Mule und freuen uns, dass wir die Gelassenheit des Alters erreicht haben.

Wir tun, was wir immer tun, wenn wir „das“ Jahreswochenende zusammen verbringen: Essen, trinken, wenn das Zimmer es zulässt – schlafen, ausgehen, shoppen, lachen, tratschen, schweigen, entdecken, shoppen, trinken. Jedes Jahr eine andere Stadt – doch wir haben das Gefühl, mit Berlin noch nicht fertig zu sein. Shoppingmäßig.

Zivilistin unterm Messer

Krankenhausaufenthalt. So willkommen wie Nacktschnecken auf der ersten Treppenstufe. Wenn alles gut läuft und das Glück genug Profil hat, tritt man nur mit einem angeekelten Gefühl drauf. Hat man Pech, rutscht man aus. Im Angebot: kleiner Eingriff in der Kiefernhöhle plus eine Nacht im Doppelzimmer inklusive Abendessen und Frühstück. Und Ärzte in Uniformen. Und Schwestern in Uniformen. Und hier und da ein zackiges „Oberfeldwebel“ durch den neonröhrenhellen Gang geschmettert. Erlebnispark Bundeswehrkrankenhaus. Gebucht.
Die Frage der Fragen, die ich in den nächsten 28 Stunden etwa viermal beantworten muss: „Sind Sie Zivilist?“ „Wie bitte?“ „Na, ob Sie Zivilist sind – oder bei der Bundeswehr?“ Nein, ich bin nicht Vereinsmitglied. Bekomme ich jetzt nur Recyclingklopapier?

Eine interessante Situation ist die Voruntersuchung. Da sitzt man neben der alten Dame und dem jungen Soldaten im Wartezimmer und fragt sich, was die wohl plagt. Stunden später erklärt es sich beim Treffen im Gang fast von selbst: Der eine trägt beidseitige Nasentamponaden bis zu den Augen hochgeschoben, die andere einseitige Ohrenschützer. Man grüßt sich etwas derangiert – aber freundlich lächelnd.

Freundlich lächeln – davon hat die Schwester mit Lockenzopf noch nie etwas gehört. Was denkt so ein Mensch? Ich gucke sie nett an, als ich den Raum betrete – und die stiert zurück, als hätte ich ihr gerade gesagt, dass ihre Brille scheiße aussieht. Keine Reaktion. Da sich ihr Oberkörper hebt und senkt, gehe ich davon aus, dass keine Leichenstarre vorliegt, also fange ich einfach an zu reden.

Mehr Humor hat wenig später die OP-Schwester: „Guten Morgen! Sie haben Ihre Tabletten genommen? Gut. Und sind Sie schon ein bisschen müde? Gut. Dann noch einmal zur Sicherheit – wie heißen Sie? Okay. Und was soll bei Ihnen gemacht werden? Jaaa, genau. Gut. Sind Sie ganz sicher? Ich hätte heute auch Brustvergrößerung im Angebot.“ Lachend in die Vollnarkose – so wünscht man sich das.

40 is the new 20?

„Können Sie mir sagen, wie spät es ist?“ Dunkle längere Haare, coole Klamotten – der Typ, der mich in der Alsterdorfer Straße anspricht, sieht gar nicht so jung aus. Ich mache den Mund auf, wieder zu, gucke ihn noch mal an, mir gehen viele Sätze durch den Kopf. Nur nicht die Uhrzeit. Hat der mich gerade gesiezt? Nun guckt er etwas irritiert, weil ich ihn anstarre, als hätte er einen Hund getreten. Um ihm keine Angst zu machen, antworte ich schnell: „Klar, es ist viertel nach drei“.

Als ich beim Friseur sitze, ist mein Wunsch nach „blonder, kürzer, mal was Auffälligeres“ futsch. Ich möchte mich auf die Suche nach grauen Strähnen begeben, die vielleicht eine Tönung nötig hätten, fast möchte ich um einen Haarschnitt „meinem Alter entsprechend“ bitten. Aber was genau wäre das dann? Pottschnitt? Glatze, damit die Perücken gut sitzen? Durchgestufter Bob? Mal „was Praktisches“?
Wie sehr müssen wir uns nach unserem Alter richten – und womit? Mit unserem Benehmen, mit unseren Klamotten, Frisuren? Mit dem, was uns interessiert oder was wir in unserer Freizeit machen? Wie viel wir trinken, wie viel Unsinn wir reden, wie laut wir lachen? Muss man ab einem bestimmten Alter etwas auf eine bestimmte Art tun oder lassen?

Ich weiß noch genau, wie ich mit 19 in meiner ersten Wohnung saß und überlegte, wie ich wohl mit 30 aussehen werde. 30 war uralt. Erwachsen. Der Spaß vorbei. Also habe ich die Zeit bis dahin so viele Partys gefeiert, war auf so vielen Konzerten und habe mich so oft verliebt – es hätte für doppelt so viele Jahre gereicht. Und was kam dann? Kein lauter Gong. Keine „Der Spaß ist jetzt vorbei“-Durchsage. Also hat man den Dreißigsten laut gefeiert und einfach weitergemacht. Viel gearbeitet, geheiratet, Kinder bekommen, und ist dadurch hier und da ganz von selbst organisierter, verantwortungsbewusster und vorausschauender geworden. Aber viele Freunde, die um die 40 sind, die sagen alle das Gleiche: Ich fühle mich gar nicht „so“. Neulich las ich in der Neon. Bei einer Umfrage war eine Frau abgebildet, das Alter in Klammern dahinter. Ich ordnete sie gleich in meinen gefühlten Altersbereich ein. Oder besser: mich in ihren. Sie war 28. Pfff, die zehn Jahre.

Eine freundlich gemeinte Erdung mussten eine paar Männer um die 40 erleben, die aus Spaß für einen Junggesellenabschied zum SonneMondSterne-Festival fuhren. Sie fühlten sich jung, dazugehörig, wahrscheinlich dachten sie in ihrem Glücks- und Alkoholrausch „Na also, geht doch.“ Bis ein junger Typ sie ansprach und meinte, er fände es total cool, dass sie in ihrem Alter noch so Gas geben würden.

Am Wochenende ging ich eine Treppe hinunter in ein Kellergewölbe und  stand in der Dildofabrik. Aus den Boxen klang „I Follow Rivers“,  und zwischen Wänden, wo früher Dildos und Gummipuppen hergestellt wurden, tanzten wir. Alle waren da, einige seit Jahren nicht gesehen – eigentlich hatte sich keiner verändert. Auch die Leute drum herum – wie immer, wie früher: Rausgebrezelte Frauen in hohen Stiefeln und tiefen Ausschnitten, szenige Schlurftypen, die sich in der Ecke nen Joint drehten oder mit Bart und Bier am Tresen lehnten. Zwei Freundinnen sagten an diesem Abend unabhängig von einander: „Wenn ich mich so umgucke … ich fühle mich gar nicht so alt“. Lag vielleicht daran, dass keine faltenfreien Supergranaten als Vergleichsmodelle herumliefen. Und ich freute mich. Klar kann man noch Partys feiern wie mit 20 oder 30. Und spätestens als sich die Tanzfläche zu Kate Bushs „Running Up That Hill“ füllte, war klar – das hier ist keine Twen-Party. Dass sich in meinen Augen niemand verändert hat, liegt vielleicht daran, dass wir gemeinsam alt werden.
Aber ist es nun peinlich, sich mit 40 zu betrinken, rumzulabern, zu tanzen und laut mitzusingen? Nö. Guckt doch keiner. Und selbst wenn. Schauspieler Wotan Wilke Möhring sagte mal: „Mit jedem Tag des Lebens vergrößert sich der Kreis derjenigen, die mich am Arsch lecken können.“ Definitiv ein Vorteil des Älterwerdens – man betrachtet einige Dinge gelassener.

Schauen wir der Wahrheit ins schlaffe Gesicht: Wir können uns soviel trimmen wie wir wollen, Cremes um die Augen spachteln oder an unseren Oberschenkeln herummassieren bis die Bürste bricht – wir sind nicht mehr in den Zwanzigern. Tut aber gar nicht weh. Denn eigentlich sind nur ein paar Falten, Verpflichtungen, Kilos oder Kinder hinzugekommen  – und wir hören einfach nicht auf. Wir gehen immer noch auf Festivals, feiern Partys, albern mit Freunden herum, trinken, tanzen – und lachen so laut wir können. Unsere Vorbildfunktion dürfen wir dabei natürlich nicht vergessen – wir müssen den Zwanzigjährigen Hoffnung geben, dass man als Vierziger immer noch saucool sein kann. Meine Hoffnung ist, dass wir uns am Sechzigsten nicht zum Kaffeekränzchen treffen. Dann lieber in der Dildofabrik.

Dinobeine & DHL

Eben noch schwanger, schon gehen die Lütten in den Kindergarten und in die Schule. Als ich meiner Tochter heute morgen die Haare bürstete, kam mir mal wieder der Gedanke: Wie groß sie schon ist!
Gern denke ich an die schönen Seiten meiner Schwangerschaften zurück: das erste Anklopfen, die Ultraschallbilder, die Freude auf den Lütten und die Kleine. Und dann sind da noch die Erinnerungen an: Wasserbeine (O-Ton: „Die nächste Hauptrolle in Jurassic Park ist Deine!“), Kreislaufprobleme, Übelkeit, Klamottenschwund, geschwollene, schmerzende Arme, Stressmomente beim Arzt, Kurzatmigkeit, Fressattacken.
Na klar ist eine Schwangerschaft ein Wunder, wundervoll, wunderprächtig. Aber im Gegensatz zu den Frauen, die mir in jeder Zeitschrift entgegenjubeln „Eine Schwangerschaft ist das Tollste!!“, muss ich sagen: Hätte man mir das Ganze per DHL-Versand angeboten – ich hätte die Portokosten übernommen.
Vermessen klingt es vielleicht, und es ist eine subjektive Sicht der Dinge – viele Freundinnen schwebten regelrecht durch diese Monate. Doch ich möchte auch mal maulen dürfen: Wie gut, dass ich kein Elefant bin. 22 endlose Monate wäre ich dann schwanger. Als Goldhamster wäre ich in praktischen 12 Tagen mit dem Thema durch, dafür müsste ich den ganzen Tag in einem beknackten Plastikrad im Kreis laufen. Auch nicht besser.

Und dann die flüchtigen Begegnungen, die einem ständig den Bauch tätscheln wollten, einem jede noch so gnadenlose Geschichte zwischen Tür und Angel ins Ohr babbeln mussten – puh. Darüber habe ich damals für das U_mag mal einen kurzen Artikel geschrieben, zum Vergrößern bitte klicken:


Im Herzen Bud Spencer

„Aber Mama, ich habe ihm schon gesagt, dass er aufhören soll, mich dauernd zu schubsen.“ Okay – 1. weggehen, 2. Hand entgegenhalten und laut „Nein“ sagen, 3. der Kindergärtnerin sagen, dass B. nicht aufhört zu schubsen – die drei Sachen sind also alle abgehakt? „Dann schubs ihn zurück. Und zwar so, dass er es nicht noch einmal macht.“ „Aber Mama, das darf ich nicht.“ Ich sitze neben meinem Fünfjährigen und komme mir vor wie Drei. Merke, wie meine Lippen trotzig verkniffen sind, die Schultern etwas hochgezogen, die Fäuste geballt. Aber hinter der Drei steht bei mir noch ne Sieben. Und Pädagogik? Keine Urkunde. Hamburger Durchschnittsmutter, hormongeschüttelt, dem Adrenalin ausgeliefert. „Emotional“, sagen meine Freunde, „aufgedreht“, wahrscheinlich die, die lieber nicht mit mir befreundet sind.

Großartig finde ich es, dass mein Kind zu einem gewaltlosen Miteinander erzogen wird – von öffentlicher Seite – und Zuhause. Schon früh konnten Sohn und Tochter mit dem Satz „Nur dumme Menschen hauen“ etwas anfangen. Wir können streiten, aber wir hauen nicht. Meine Erziehung!

Und in den nächsten fünfzehn Jahren werde ich den Teufel tun, meinem Sohn zu erzählen, dass ich den Wunsch, jemandem so richtig eine zu verpassen, so richtig gut verstehen kann.  Dass ich mir manchmal wünsche, 1,90 Meter zu sein, männlich, mit Bizeps, Trizeps und sonstigen Zeps.

Ich habe mich noch nie richtig geprügelt, ich finde das ordinär, kleingeistig und unattraktiv. Doch ich war schon immer mit zwei sich gegenseitig sehr aufschaukelnden Eigenschaften ausgestattet: einem gnadenlosen Gerechtigkeitssinn und einem aufbrausenden Temperament.

Bereits in der Grundschule bereitete mir diese Mischung anstrengende Stunden. An einem fürchterlichen Wochentag schaffte ich es nicht mehr rechtzeitig zur Toilette, die Hose war nass. Es war mir zu peinlich, zum Sekretariat zu gehen, um meine Mutter anzurufen, also versteckte ich meinen Sportbeutel, band mir meine Jeansjacke um die Hüften und setzte mich in der Sportstunde auf die Bank.
Mitschülerin M. hatte Wind davon bekommen, rannte an der Bank vorbei und zischte mir zu: „Du stinkst!“ Noch heute fühle ich die Hitze in meine Wangen steigen und die Tränen der Wut und Scham, die mir in die Augen schossen. Mir war danach, ihr hinterherzulaufen, um ihr das Springseil um die Ohren zu hauen.

Vor der nächsten Sportstunde entschied ich mich stattdessen dafür, ihr in der Umkleidekabine vor allen die Unterhose runter zu ziehen. Hatte auch einen guten Effekt.
Sie war fuchsteufelssauer, alle schrien,  und der Klassenlehrer schrieb mal wieder eine Notiz an meine Eltern. Das war es mir wert.
Es hätte mir nicht gereicht, ihr diplomatisch zu sagen „Ich möchte nicht, dass Du so gemein zu mir bist.“ Ich wollte es spürbar machen.

Kennt das nicht fast jeder? So einen Moment, wo jemand vor Dir steht, mit dem reden einfach nicht mehr angesagt ist? Ob das eine Lösung ist? Nein. Selbstbeherrschung ist wichtig, Situationen einschätzen ebenfalls: Mit Zwanzig schlenderte ich mit einem Freund in einer Samstagnacht über die Reeperbahn, ein großer Pulk junger Männer kam uns entgegen, ausweichen war zu spät, also mittendurch. Ich wusste genau, wer von denen mir im Vorbeigehen zwischen die Beine gegriffen hatte. Wonach mir war, möchte ich hier nicht geschrieben sehen – doch ich beherrschte mich. Etwa zwölf Proleten, alle angetrunken und enthemmt, und  meine Begleitung hätte wahrscheinlich kein Nasenbein mehr, hätte ich meinem Impuls nachgegeben.
„Leg Dich nicht an, steck so etwas weg“, hallte mir die Stimme meiner Mama im Kopf, die immer Angst hatte, dass ich meinen Mund im falschen Moment zu weit aufmache, im falschen Moment zurückremple oder mit den falschen Leute eine Diskussion anfange.

Gewalt ist keine Lösung. Amen. Und trotzdem bereue ich es bis heute nicht, meiner Mitschülerin S. auf den Arm geboxt zu haben. Die Größte in der Klasse war sie, ich die Kleinste. Meine beste Freundin C. war gerade dabei, die Faschingsdeko aufzuhängen, als S. sie mit den Worten „Ich mach das!“ grob von der Leiter schubste. Ich hatte schon Respekt davor, dass sie mich schnappt, doch für diese Runde war ich schneller.

Und heute? Ich schaue lieber zu, wie die Klitschkos jemanden vermöbeln. Älter und weiser bin ich natürlich. Meine Kinder dürfen nicht um sich schlagen. Aber sie sollen auch keine Opfer sein. Das ist widersprüchlich? Nicht immer.

Und ich? Mehr als 1,60 Meter sind nicht draus geworden. Aber ordentlich Bizeps vom Kindertragen und genügend Grips, um keinen zu hauen. Ehrlich nicht. Mach Dir keine Sorgen, Mama.

Mir schwant Böses

Bei der Lektüre des spiegel.de-Artikels rutschen mir die Spaghetti Napoli eine Etage nach oben: Heribert Schwan plant ein Enthüllungsbuch über Helmut Kohl. Er habe 630 Stunden unveröffentlichtes Tonmaterial. Eine beeindruckende journalistische Leistung – als Ghostwriter der Memoiren von Kohl und acht Jahre langem Zugang zu jedem Teppichfussel, Einblick in jeden verschmierten Ketchupflaschenhals, jedem Einkaufszettel, Spendenbeleg und jedem Satz der Stasiakte.
Drei Bücher zaubert er aus dem interessanten und juristisch korrekten Material, die brisanten Details lassen Kohl und Schwan im Rohmaterial ruhen.

Und fünf Jahre später, an einem schönen Sonntagabend, sitzt Schwan bei Tatort und Abendbrot, kaut auf ner rohen Karotte und ihm fällt siedenheiß ein: „Mensch!! Ich hab ja noch ganz viele tolle Informationen über den Kohl. Und für die nächsten Monate noch kein neues Projekt – das passt ja super.“ ??
Vielleicht war er zu sehr mit dem Enthüllungsbuch über Hannelore Kohl beschäftigt, welches er 2011 veröffentlichte … Oh, auch ein Enthüllungsbuch. Das ist ja ein Zufall.

„Einen Rechtsstreit mit dem Altkanzler fürchte er nicht, da er nie eine Vereinbarung unterschrieben habe, die ihn zur Verschwiegenheit verpflichte.“ (spiegel.de)
Wie kann ich mir das vorstellen? Helmut Kohl engagiert Schwan, um für ihn seine Memoiren zu schreiben. Schwan zeichnet alles auf, und Kohl vergisst zwischen öffentlichen Verpflichtungen und wöchentlicher Autowäsche, jegliche Rechtsfragen zu klären und vertraglich festzuhalten? Stocknaiv wäre er. Eine Eigenschaft, die ich mit diesem Mann nicht in Verbindung bringe. Und welcher Charakter verbirgt sich hinter Schwan? Hinterhältig? Geltungssüchtig? Was macht er eigentlich gerade? Ach ja, er liest seine Hannelore-Enthüllungen vor, läuft gut für ihn. Und – stimmt, er ist in Rente. Na, da ist es doch schön, wenn man ein Hobby hat.

Ich bin kein Kohlfan und ich bin kein Schwanenhasser, aber ich mag es, wenn jemand mit den Begriffen „Menschlichkeit“ und „Anstand“ etwas anfangen kann. Leid tut mir Kohl nicht, seinem Beichtvater qualmen bestimmt auch die Ohren –  und Personen des öffentlichen Interesses müssen damit rechnen, das Messer von hinten durchs Auge zu bekommen. Doch das, was Schwan „eigenen Exzerpte (…) meine geistige Leistung“ (spiegel.de) nennt, ist widerlich. Wäre es das reine Interesse, Licht in die Spendendaffäre zu bringen, hätte er seine Informationen der Staatsanwaltschaft vorgelegt. Aber nicht in Form eines gebundenen Buches.

Mein Kind bin ich

„Meine Kinder sind die Besten. Und was sie schon alles können! Natürlich kann der Kleine schon Fahrrad fahren. Ja, NATÜRLICH ohne Stützräder. Ach, Deine kann das noch nicht? Wann wird sie nochmal Fünf? Ah ja … Aber nein, mein Lächeln ist nicht herablassend, eher mitleidig.

Ich bin wirklich sehr darum bemüht, dass alles auf dem richtigen Entwicklungsstand ist. Müsste ein Kind mit vier Jahren eigentlich schon Plusrechnen können? Mh. Lese ich nachher mal nach. Aber beim Sprechen – da sind beide ja wirklich talentiert. Schon viel früher als andere konnten sie Vierwortsätze bilden.
Wie bitte? Ob er nachts schon trocken ist? Phhhhh. Das ging wie von selbst. Durchgeschlafen haben beide mit acht Wochen, und Brei essen – war auch kein Problem.

Überhaupt ist bei uns alles total entspannt.

ICH bin total entspannt.

Nur jetzt ist die Große schon seit vier Wochen in der ersten Klasse – sollten sie nicht bald mal mit dem Lernen anfangen? Wir haben sie extra so früh eingeschult, nun sollte man doch nicht so viel Zeit verlieren.
Der Vorteil, den sie später als junger Berufseinsteiger hat, der ist schließlich nicht von der Hand zu weisen. Ein Jahr früher eingeschult bedeutet ein Jahr früher im Job. Bedeutet ein Jahr früher die ersten Hundertfünfzigtausend verdienen.

Leistungsdruck? Aber nein. Ich schaue nur, dass sich meine Kinder in der Gewinnerzone aufhalten (und ich stehe dort direkt neben ihnen). „Endstück“ hat meine Tochter heute schon geschrieben. Ist das nicht toll? Ich bin so stolz! Und eigentlich langweilt sie sich ja sehr in der 1. Klasse, sie ist völlig unterfordert.
Manchmal habe ich den Verdacht, sie könnte hochbegabt sein.

Und sie ist ja schon SO selbstständig. Überhaupt finde ich diese Bemutterung von Grundschulkindern wirklich überflüssig, sie waren lange genug klein. Überforderung? Ich bitte Dich! Meine Kinder sind intelligent genug (Deine anscheinend nicht). Die sind schon SO vernünftig. Was sagst Du? Kinder dürfen und sollen unvernünftig sein? Ist das nicht etwas verklärt?

Na ja, es gibt natürlich auch Grenzen mit den eigenen Entscheidungen. Das Abi sollten sie schon machen, eine Stadtteilschule wäre für unsere Familie wirklich nicht akzeptabel. Nein, ich habe nicht studiert. Aber das ist doch ganz was anderes.

Ach was! Ich profiliere mich doch nicht über die Leistung meiner Kinder. Das habe ich gar nicht nötig.Wie bitte? Ich poliere auf ihre Kosten mein angeschrammtes Selbstbewusstsein?
Ts. Du bist ja nur neidisch.“