Hauptstadtnächte


Zwei Frauen in Berlin: 2 Nächte & 9 Stunden Schlaf, Becks & Rotwein, Russenpension & Klokombüse, Espressobar & neue Menschen, Niels Frevert & Erdmöbel, Mavi-Jeans & Modeparty, 6-Tage-Rennen, Italiener & 60ies-Soul, Gute-Nacht-Geschichten & Schokocroissant, Coffy & Ringe unter den Augen.

Nach sieben Stunden Messemarathon auf der Modemesse Bread & Butter liege ich in der Pension Bella auf dem Bett, ein Becks in der Hand, Sandra auf der anderen Betthälfte und wir lachen. Hat was von Klassenfahrt – ein Mädelswochenende in Berlin! Das Zimmer ist nett gesagt charmant, ehrlich gesagt schrottig, ein Drittel vom Raum ist abgetrennt, die Trennwand allerdings nicht bis zur Decke hochgezogen, sondern auf halber Strecke abgesägt, sodass eine Klokombüse den Raum schmückt. Spült man, erzeugt das so einen Unterdruck, dass es durch Mark und Bein röhrt. Auch wenn der Nachbar spült. Auch nachts. Und früh morgens.
Nach einer Stunde sitzen wir in der Volksbühne, Niels Frevert singt von sprechenden Messern und Sehnsucht, wir kuscheln uns in die roten Plüschsitze und trinken unser zweites Feierabendbier. Schön und schluffig schraddelt Frevert sein Programm, das Publikum mag ihn. Der Song, wegen dem ich hier überhaupt sitze, den hat er etwas eilig und trotzdem – „Wann kommst Du vorbei, lehnst Dich an mich, Du hast mein Herz so unaufgeräumt …“ Gänsehaut stellt sich ein, das Konzert hat sich in diesem Moment gelohnt, egal was da noch kommen mag.
Als Hauptband kommt Erdmöbel auf die Bühne. Selten eine so skurrile Band gesehen, der Gitarrist linst leicht irre grinsend durch die Publikumsreihen, und das erste Lied geht gar nicht. Doch „Russischbrot und Küsse …“ – das ist schön.

Auch schön ist, wenn man merkt, dass man etwas gut kann. Feiern zum Beispiel. Allerdings ist es hier schwierig, eine Entscheidung dagegen oder dafür zu fällen, wenn man doch kein Talent dafür hat. Zweimal hab ich mich mit Gitarre lernen abgemüht, stellt fest, das ist nicht meins – und habe es gelassen. Stört mich, aber mäßig. Doch würde ich fest stellen, dass ich nicht gut feiern kann, würde ich es dann tatsächlich eines Tages einfach sein lassen können?
Eigentlich auch egal – denn ich mache hier auf meiner Lebensliste ein Häkchen mit Plus. Selbst wenn eine Stunde 6-Tage-Rennen auf dem Amüsierplan steht.
Es ist heiß in der Halle, und unglaublich laut. Motorräder mit stehenden Menschen an den Lenkern rasen im Kreis, dahinter jeweils ein Radrennfahrer, auf der Werbetafel wird „Der große Preis der Steher“ eingeblendet. An mir läuft eine Frau mit hautenger Jeans, zugepastetem Gesicht und bis zur Starre gebleichten Haaren vorbei. Ihre Hose sitzt so tief, dass man froh sein kann, dass sie sie überhaupt zumacht, auf hohen Absätzen schiebt sie sich durch die Menge, die Freundin an ihrer Seite sieht aus wie die B-Seite der schlechten A-Seite. Aber sie sind jung, schlank und willig. Fragt sich nur, was sie wollen? Denn schaue ich mich im Radel-Rondel um, stehen fast nur alte, unattraktive Männer an den Tresen, mit Trillerpfeiffen im Mund und Alkohol in der Hand. Ich stelle mir solche Typen beim Harken des Vorgartens ihres Campingdauerplatzes vor, doch weit gefehlt – hier steht angeblich das Geld, wofür die Mädels sich so ins Hohlkreuz werfen. Alle weiteren Vorstellungen möchte ich meiner Fantasie ersparen.

Nach einer weiteren langen Nacht, durchtanzt und durchquatscht im Coffy, einem Sixties-Soul-Laden, schlurfen wir in die Pension Bella, um unsere Sachen zu packen. Da wir erst um halb Elf dort ankommen, lohnt sich Hinlegen nicht mehr wirklich und so setzen wir uns direkt an den Frühstückstisch. Es ist so still im Raum, dass eine Unterhaltung unmöglich ist. Mit roten Augen, übermüdet und albern gackern wir unser Frühstück in uns hinein, sagen Zimmer Nummer Sieben „Tschüss“ und laufen zum Bahnhof Zoo.
Mehr oder weniger schlafend überstehen wir die Zugfahrt und steigen Dammtor aus, die Winterlandschaft der Wallanlagen vor meinen Füßen. Kurzerhand entschließe ich mich, durch den Park zu gehen, um nach Hause zu kommen, alles ist bedeckt von Schnee, Kinder schlittern auf dem zugefroreren See, die Luft klirrt leise vor sich hin, die Sträucher im Rosengarten haben Mützen auf, alles friert.
Langsam bummel ich die Wege entlang, der Trolly ächzt durch den bedeckten Weg. Ich hatte durchaus schon bessere Ideen, als einen Koffer durch schneebedeckte Pfade zu ziehen, doch ich halte mich wacker.

Link zur Gallerie gibt es bei netter Anfrage an 2boots@gmx.de. Vielleicht.

Song des Tages: Damian Rice, „The Blowers Daughter“

3 Gedanken zu „Hauptstadtnächte

  1. Joshua sagt:

    „Eigentlich auch egal – denn ich mache hier auf meiner Lebensliste ein Häkchen mit Plus“

    Ein wunderschöner Satz, finde ich. *respect*. Vor allen Dingen ausgesprochen im Rahmen dieses Riesenspektakels äh, -theatro.

  2. Julia Emma Schröder sagt:

    Keine Sorge – ich halte mich nicht nur wacker, wenn ich einen Koffer durch den Schnee prügeln muss.

    Von „Du siehst aber müde aus“ bis „Dafür siehst du aber gut aus“ war heute schon alles dabei. Noch hat mich niemand mit offenem Mund und einem „Oh, ähhh, bist du krank?“ bedacht. Kommt vielleicht noch, die Energiekurve macht bestimmt nachmittags eine Talfahrt. Ich kenne aber mindestens EINE Person, die auch etwas Schlaf gebrauchen könnte. Das tröstet.

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