Alter – Feste feiern!

„Ich hasse Geburtstage. Am liebsten würde ich wegfahren. Ich werde wieder ein Jahr älter – und was ist das für ein Grund, zu feiern… dass ich ALT werde?“, antwortet Freundin M. und guckt mich verständnislos an, als ich sie frage, wie sie ihren 45sten feiern wird.
Dieses Gespräch ist ein paar Jahre her – und gestern hatte ich Geburtstag. 48 bin ich nun. Oh, Moment, wie war das? „Über ihr Alter spricht eine Frau nicht“ – ach nein? Warum nicht? Und warum zur Hölle ist es unhöflich, eine Frau nach ihrem Alter zu fragen? Weil die Gesellschaft trotz aller „Pro Aging“-Produkte und „Ü40 und fabelhaft-Bücher“ daran festhält, dass Älterwerden den Frauen einfach nicht so gut steht? Dass wir uns für unser Alter schämen, uns trimmen und glatt halten sollen? Hier ein bisschen ziehen, da ein bisschen drücken und cremen, aber ey verflixt – in der „Blabla-Dingsbums“ stand neulich gleich neben der neuen Diät und den News von Kim Kardashians Hintern, dass man das wahre Alter an den Händen erkennt. Was machen wir denn jetzt? Den ganzen Tag Handschuhe tragen? Lange Ärmel zum Must-have erklären? Ganz ehrlich? Scheißt doch drauf. Feiert, Ladies! Zieht an, was Ihr wollt, schminkt Euch oder schminkt Euch nicht, zieht Euch nen Nasenring, fahrt Rollerskates, tragt knallroten Lippenstift, mörderische High Heels oder dicke Boots, lacht laut, brüllt im Fußballstadion, erzählt dreckige Witze und hüpft auf Konzerten – oder auch nicht.

Ich habe von einer Freundin eine tolle Namenskette geschenkt bekommen. Kennt Ihr diese Ketten mit dem geschwungenen Schriftzug? Auf meiner steht nicht „Julia“, auf meiner steht „Schnaps“. Finde ich extrem lustig, feiere ich sehr. Ob das altersgemäß ist? Pffff. Ich werde sicherlich nicht mehr innerlich die Gesellschaft befragen, ob ich etwas tragen, sagen oder denken darf. Zu dieser Einstellung würde ich übrigens meinem 20jährigen Ich raten.  Ein positiver Nebeneffekt, den das Alter mit sich bringt. Aber ich schweife ab. Zurück zur Frage, ob ich meinen Geburtstag feiere, obwohl es nicht der 25ste ist. Natürlich! Warum? Weil ich es kann. Es ist für mich ein wunderbarer Grund, zu feiern, dass ich älter werden darf! Was ist denn schon Lebensfreude, wenn ich nicht feiere, dass ich gern lebe? Nein, ich bin nicht krank, nehme aber trotzdem meine Gesundheit und mein Leben nicht als selbstverständlich.

Also JA! Natürlich feiere ich meine Geburtstage – ich bin hier. Ich darf dieses neue Jahr feiern – und dafür bin ich verdammt nochmal dankbar. Und nein, es geht nicht um hinkende Vergleiche wie „Wie, Du magst Dein Essen nicht, denk an die hungernden Kinder in Afrika“ – es geht um eine Perspektive, für die ich mich aktiv entscheiden kann. Mit etwas Demut und ja, auch Dankbarkeit – und natürlich gehört mit der wachsenden Erholungszeit nach Parties und den Falten, die definitiv nicht nur Lachfalten sein können, auch etwas Humor dazu. Abgesehen davon hat Attraktivität und Schönheit – innere wie äußere – für mich absolut nichts mit Jahreszahlen zu tun.

Natürlich rücken wir der Endlichkeit mit jedem Jahr näher – und das kann sich bedrohlich anfühlen, die Vorstellung, dass meine Zeit oder die geliebter Menschen irgendwann vorbei ist – das lässt innerlich natürlich nicht die Korken knallen. Doch ändern werden wir es nicht – und beeinflussen kann ich nur eine Sache: Mit welcher Einstellung ich lebe.

Denn es ist mit dem Leben doch wie mit der Liebe: Aus Angst, verletzt zu werden, nicht zu lieben, kann das wirklich eine gute Wahl sein? Aus Angst, alt zu werden, nicht das Leben zu feiern, kann das eine gute Wahl sein? Hey, das hier ist keine Generalprobe. Wir haben nur diese eine Runde. Mit „sich grämen, dass ich älter werde“ die Zeit verbringen? Oder es so zu sehen: Mit 48 bin ich gerade mal 28 Jahre wirklich erwachsen. Wenn ich wie geplant 100 werde, dann liegen noch 52 Jahre vor mir. Wow! Das ist mal ne Aussicht.
Und wenn ich nun mit 40, 45 oder 55 auf ein Leben gucke, in dem nicht alles so ist, wie ich es mir erträumt habe? Wenn ich meinen Job hasse, mein Partner ne Wurst ist und ich eigentlich sowieso ganz anders bin als die meisten denken? Mensch, dann leg los! Du hast noch Jahrzehnte vor Dir, wenn alles glatt läuft. Mach doch was draus, worauf wartest Du? Niemand wird kommen, um Dir einen Passierschein in ein glückliches Leben auszustellen – nur Du selbst kannst Dir das erlauben.

Und ja, es gibt viel Schlimmes auf der Welt, es gibt Krankheiten, Kriege und Schicksalsschläge, und wenn Dich gerade etwas davon betrifft, dann bleibt die Musik auch mal aus, ganz klar: so eine Situation meine ich an dieser Stelle nicht, es geht mir nicht um krampfhafte Schönmalerei.

Aber wenn es der Alltag mit den weißen Strähnen, etwas steiferen Hüften und den herantrabenden Wechseljahren ist – dann kann ich nur sagen: Happy Birthday to me! Ich feiere nicht nur das Älterwerden. Ich feiere das Leben. Prost!

Wer willst Du sein in der Krise?

Von dieser Krise, die uns alle eint, ist hier und da die Rede, von einer neuen Solidarität. Ja, doch da sind auch noch die, die sich an der Not der anderen bereichern. Und so stellen wir in vielen Bereichen fest: Die Unterschiede zeigen sich häufig deutlicher als die Gemeinsamkeiten.

Weder die sozialen Voraussetzungen holen uns in ein Boot, noch die Art unserer Jobs – einige von uns befinden sich in wirtschaftlich gesicherten Verhältnissen und müssen sich keinerlei Sorgen machen, bei anderen geht gerade eine ganze Branche unter und die berufliche Zukunft steht in den Sternen. Doch das bedeutet nicht, dass es denen mit dem sicheren Job zwangsweise besser geht.

Vielleicht ist der mit dem sicheren Job in einer mental stark belastenden privaten Situation gefangen, vielleicht verfügt der mit dem Jobverlust über so eine hohe Resilienz, dass er durch diese Krise mental gut durchkommt und Alternativen findet.

Es gibt kein Schwarz und Weiß – und es gibt nicht das eine, was uns alle eint. Außer, dass da etwas von außen in unser Leben eingreift, worüber wir keine Macht haben, was uns zunächst einmal die vermeintlich vorhanden Kontrolle über unser Leben aus der Hand nimmt. Warum vermeintlich? Weil wir uns in einer Sicherheit gewähnt haben, die es nicht gibt. Das anzuerkennen, das zu akzeptieren, ist für viele die größte Herausforderung.

Einigen kommt es vor, als habe man ihnen das Steuerrad ihres Lebens aus der Hand genommen, sie fühlen sich ohnmächtig, nicht in der Lage zu agieren, nur noch zu reagieren, das Gefühl, keine Wahl mehr zu haben. Ja, in einigen Punkten zeigt uns diese Situation natürlich Grenzen unseres Handlungsspielraums auf.

Eine Gemeinsamkeit in der Krise

Doch es gibt bei allen Unterschieden einen Bereich, in dem wir eine Entscheidung fällen können – in dem wir eine Wahl haben. Und zwar bei der Frage: Wer wollen wir sein – in dieser Krise?

Wir haben die Freiheit, uns zu entscheiden, wie wir mit dieser Krise umgehen. Jetzt mag der ein oder andere denken „Wenn es mir richtig schlecht geht – wenn ich am Boden bin – wo ist da noch eine Entscheidungsfreiheit?“

Wer so denkt, dem möchte die Lehre Viktor E. Frankls ans Herz legen – die Logotherapie, auch Existenzanalyse genannt. Viktor E. Frankl überlebte vier Konzentrationslager – und schrieb nach seiner Befreiung das Buch „… und trotzdem Ja! Zum Leben sagen“. Frankl sagte: „Die letzte der menschlichen Freiheiten besteht in der Wahl der Einstellung zu den Dingen“. Natürlich möchte ich an dieser Stelle nicht Konzentrationslager und Corona in einen Topf werfen – es geht vielmehr um die Haltung, um die Freiheit der Entscheidung zur eigenen Haltung, die jeder Mensch in einer noch so ausweglosen Situation hat.

Frankls Logotherapie hält uns auch heute noch dazu an, darüber nachzudenken: Wer wollen wir sein in der Krise? Möchte ich derjenige sein, der von Angst getrieben anderen Menschen die Nudeln und das Toilettenpapier wegkauft und misstrauisch meiner Umwelt begegne? Oder möchte ich jemand sein, der mit einem offenen Herzen und Hoffnung diesen Weg beschreitet – der dankbar ist für das, was da ist – und der den Hindernissen nicht mit Egoismus, Anspruchsdenken und Angst begegnet. Der eine Haltung zum Leben und seine Werte bewahrt, die ihm nichts und niemand nehmen kann.

Ich kann einen Zaun um mich und meine Ängste ziehen, zusehen, dass es mir gut geht, mir all die schlechten Nachrichten in meine Welt holen und meine Angst damit befeuern  – oder ich kann großzügig sein, ich kann die Türen aufmachen. Ich kann schauen, ob es anderen schlechter geht als mir – wo ich helfen könnte, und sei es, gute Gedanken zu verbreiten, Telefonate zu führen, im Tierheim als Gassigeher anzufangen.

Ich sage es mal salopp: Der Drops ist gelutscht, wir haben den Salat, wir können an der Existenz von Corona nichts ändern. Und nun stellt sich die große Frage, wie wir damit umgehen. [ss_click_to_tweet tweet=“Etwas von außen beeinflusst unser Leben nachhaltig, bringt uns mitunter zum straucheln oder zum stolpern. Die Krise ist da – das konnten wir nicht entscheiden. Doch wir haben die Wahl, wie wir damit umgehen.“ content=“Wenn wir zurückschauen auf diese Zeit – was für einen Menschen möchten wir sehen, wenn wir uns daran erinnern, wer wir in dieser Krise waren?“ style=“4″ link=“1″ via=“1″]

„Wenn das Leben Dir Zitronen gibt, mach Limonade draus“ – natürlich klingt dieser Satz erstmal nach Sinnspruch am Kühlschrank für Menschen, denen es ohnehin grundsätzlich gut geht und die eh schon genug Limonade im selbigen stehen haben. Wer in weniger privilegierten Umständen lebt, fragt natürlich „Und woher soll ich den Zucker dafür nehmen?“ Doch wenn es stimmen würde, dass nur die Glücklichen die Welt ein bisschen besser machen können, die die genug Geld und Liebe haben, dann würde das ja bedeuten, dass die Menschen im Ehrenamt, in den Mitternachtsbussen, hinter den Tresen beim sozialen Mittagstisch oder im Tierschutz – dass das alles finanziell und sozial Privilegierte sind. Sind sie natürlich nicht.

Aber sie sind eben die, die Freiheit der Entscheidung genutzt haben, um etwas Gutes zu tun.
Ihre Einstellung zum Leben ist der Zucker, der zur Limonade fehlt, wenn das Leben Zitronen reicht – nicht mehr Geld, nicht mehr Sicherheit.

Wenn man möchte, kann man neben all den wohltätigen Organisationen auch viele einzelne Beispiele dieser Menschen im Internet finden: Die Lehrern aus München, die die Monatsmiete für einen kleinen Buchladen übernimmt – die von sich selbst sagt, dass sie  nicht reich sei, aber ein festes Einkommen habe und ihr Urlaubsgeld gern abgibt.

Die Freunde, die für ein Pflegeheim im Sauerland Straßenkonzerte für die Bewohner veranstalten, der Pensionsbesitzer aus Hamburg, der nun mit einem Oldtimer-Bus durch die Stadt fährt und mit Musik für gute Laune und positive Energie sorgt.

„Wer, wenn nicht wir“ heißt das Projekt auf dem Hamburger Kiez. Daniel Schmidt, Betreiber der Kneipe „Elbschlosskeller“ hat ebenfalls eine Entscheidung getroffen, die zeigt, wer er (nicht nur) in dieser Krise ist: Er und sein Team aus vielen großartigen ehrenamtlichen Helfern haben eine private Initiative auf die Beine gestellt und helfen Obdachlosen – Essen wird ausgegeben, Spenden und Hygieneartikel verteilt. Auch einen Lieferservice dafür haben sie organisiert, und einen Transport zum St. Pauli Schwimmbad, welches die Türen für Bedürftige öffnet, damit sie duschen können. Dieser kurze Film zeigt, worum es geht: Wer, wenn nicht wir  – um die Entscheidung, die man auch dann noch fällen kann, wenn man selbst von der Krise betroffen ist und nicht in Geld schwimmt.

Prominentes Beispiel: Auch Starkoch Tim Mälzer (Bullerei, Hamburg), der selbst seine Restaurants schließen musste, hat sich bei der Initiative „Kochen für Helden“ eingeklinkt und kocht seit Wochen mit seinem Team tausende von Essen für Menschen in Funktionsberufen. Die ewigen Nörgler höre ich sagen: „Na, der kann sich das auch leisten.“ Ja, vielleicht kann er das eher als der Cafébesitzer um die Ecke. Aber auch er hat sich für etwas entschieden.

Vielleicht ist das nicht bei jedem ein bewusster gedanklicher Prozess – vielleicht „ist er so einfach“. Umso mehr zeigt auch er damit, wer er ist. Er hat sich dafür entschieden, sich nicht nur um sich zu kümmern, sondern etwas zu bewegen, etwas Gutes zu tun. Natürlich ist das auch gut fürs Image – das darf es auch sein.

Ein Eugen Block hat sich für den anderen Weg entschieden: Auch er führt sein Block-House-Unternehmen und seine Mitarbeiter durch die Krise, ja. Doch er hat sich nicht dafür entschieden, darüber hinaus etwas Gutes zu dieser Situation beizutragen, zu gucken, ob er teilen und helfen kann. Er kommt in die Schlagzeilen, weil er wettert – über Panikmache und leere Krankenhäuser, und dass es ihm nicht ausmache, drei Tage früher zu sterben, er redet vom liebenden Gott und davon, dass er seine Verluste bei der Regierung einklagen werde. Seine Entscheidung. So möchte er sein in dieser Krise: entschlossen, zornig, Ansprüche einklagend.

Wir können im Kleinen viel dazu beitragen, dass – bei allen Unterschieden – tatsächlich ein Gefühl von Einheit entstehen kann, nämlich bei der Gemeinsamkeit, dass wir Menschen sind, die empathisch sein können, die denen die Hand reichen, die gerade noch mehr Hilfe brauchen, als wir selbst. Dass wir abgeben und teilen anstatt uns ängstlich an das zu klammern, was wir besitzen. Das wir uns bewusst dafür entscheiden, wer wir in dieser Krise sein wollen.

Fortuna für alle

„Als ich fünf Jahre alt war, sagte mir meine Mutter, dass glücklich sein der Schlüssel zum Leben sei. In der Schule fragten sie mich dann, was ich später einmal werden möchte. Ich schrieb hin: „Glücklich.“ Sie sagten mir, dass ich die Aufgabe nicht verstanden hätte, und ich sagte ihnen: „Ihr habt das Leben nicht verstanden.““

John Lennon

Hier geht es zu einem interessanten Artikel über „Glücksunterricht  in der Schule“ – auf Deutschlandfunk Kultur vom 06.06.2017.

 

Ey, Zweitausendzweiundzwanzig! Was geht?

Sie lagen in der hintersten Ecke ganz unten im Karton auf dem Dachboden – Terminkalender aus den Jahren 1990 bis 1993. Und während ich beim Durchblättern ab und zu hochschaue und meine Tochter angucke, frage ich mich, wie sie wohl in ein paar Jahren sein wird. Im nächsten Moment richte ich meine Aufmerksamkeit wieder auf die eng beschriebenen Zeilen und frage mich außerdem: Was zum Teufel hat eine Fünfzehnjährige eigentlich für Termine?  Was für Termine, die einen ganzen Kalender benötigen? Schule, Fußball, Hockey, ein paar Verabredungen – das kann man sich doch so merken?

Und dann sehe ich: Als Fünfzehnjährige wusste ich die damals üppige Freizeit gut zu nutzen. Schulschluss um 13 oder 14 Uhr, Abi in 13 oder 14 Jahren – fast jede Zeile ist mit Müßiggang gefüllt. Gefühlt steht da jede Woche „Billard spielen mit Kathi“, jeden dritten Tag hatte irgendjemand Geburtstag, und ich sehe … lauter Parties! Fete-Startloch, Tini-Party, Alex-Party.. Und: Sit-ins! Das Event der Neunziger: Ein Sit-in. Damals tummelten sich sechs bis zwölf Teenager in Jugendzimmern, hörten Musik und hingen ab. Und das ganz ohne WhatsApp-Gruppe, die Telefonkette funktionierte. Manchmal stundenlang. Der Zoff mit den Eltern war Programm („WIE lange telefonierst Du schon? Niemand kann uns erreichen!!“).

1991 kamen Bandproben, Job bei „Brinkmann“ und „Hall Of Fame“ dazu, die Klassenarbeiten kreiste ich vorsichtshalber dick ein, hätten ja untergehen können zwischen den Aktivitäten.

Simple-Minds-, Tears For Fears- und Simply-Red-Konzert … ok, auch Melissa Etheridge und Heinz Rudolf Kunze habe ich damals gesehen. Selektive Erinnerung.

Neben den Sinnsprüchen, die ich als Sechzehnjährige zwischen den Blättern notierte („Nur Veränderung der Verhältnisse ermöglicht gutes Leben“), den Zensuren, ganz hinten reingekritzelt (Bio: 2, Mathe: 6, Volleyball: 1), finde ich die Adressbücher am spannendsten. Namen, die ich nicht zuordnen kann. Kein Gesicht dazu. Nichts. Und auch wenn ich diesen Bereich als beachtlich gefüllt empfinde – gegen die heutige Masse an Facebookfreunden bei den meisten Fünfzehnjährigen, gebe ich zu, ist das eher jämmerlich.

Wir hatten viel Zeit, wir haben viel unternommen und viel geredet damals, Ende der Achtziger, Anfang der Neunziger. Ich frage mich, wie dieses Alter für meine Kinder werden wird – während ich mit 15 kichernd zuckersüßen Chris-Fruchtsekt schlürfte, werden meine Kinder schon längst ihre ersten Alkopops getrunken haben? Hört man heute noch zusammen Musik, sitzt mal schweigend beieinander – ohne dabei ein Handy vor der Nase zu haben? Wie sind die so – die Sit-ins des neuen Jahrtausends?

Und dann zucke ich kurz panisch und denke – vielleicht geht das auch schon mit Zwölf los? Ich höre und lese immer wieder, dass Kinder heute frühreifer sind, dass die Pubertät ein paar Jahre eher beginnt – und bei einigen Eltern habe ich den Eindruck, sie finden es super, wenn ihre Kinder früh groß, vernünftig und erwachsen wirken. Und ich denke: Ja, man reißt Fliegen nicht die Beine aus, man haut nicht – und man sollte nicht mit Fremden mitgehen, soviel Verantwortungsbewusstsein bei einem Kind finde ich gut. Aber ich freue mich, wenn meine Kinder möglichst lange das Privileg der Kindheit leben: kindlich sein, voller Fantasie, verquatscht, verspielt und mit ganz vielen Rosinenflausen im Kopf.

Wir werden dank der Lebensbedingungen und der Medizin immer älter, wir sind den kleinsten Teil unseres Lebens Kind und die meiste Zeit erwachsen. Mehr als nötig von der Kindheit abzugeben – wäre das nicht verrückt?

Adieu, Niveau!

Als ich letzte Woche um 7 Uhr zur Arbeit fuhr, lief mir fast der Kaffee aus dem Mund: Der VHH hat wirklich alles gegeben. Frauentausch trifft Talkshow, tiefer kann das Niveau nicht mehr sinken. Ich zwinkerte, nahm noch einen Schluck, aber die Buchstaben, die vor mir riesengroß auf dem Heck des Busses standen, blieben in derselben Reihenfolge: „Öfter mal einen fahren lassen“. Da wird Busfahren doch plötzlich viel attraktiver.
War das Niveau schon immer da unten? Verrohen wir immer mehr, steigt die Anzahl die grölenden Schenkelklopfer, die eine Saftwerbung für einen Drink mit Chiasamen lustig finden, auf der steht „Bei Samenstau bitte schütteln“ oder „Oralverzehr – schneller kommst Du nicht zum Samengenuss“? Drei Jahre bin ich in der Kantine der Holsten-Brauerei in die Schule der niveaulosen Witze gegangen, ich habe lange Zeit Musik gemacht, Bandproben mit Bierkästen und derben Sprüchen – alles kein Problem, ich bin da nicht zimperlich. Aber das hier ist nach meinem Empfinden unterste Schublade. Wie kann man sich das vorstellen in der Marketingabteilung von „True Fruits“?: „Samen …“, (kicher), „Mh, was fällt uns dazu ein ..?“, (glucks), „Also … mir ja nur was Schweinisches, hihi!“, „Jaaa, Samenstau! Haha!“, (prust),  „Oralverkehr!“ „Ich hab’s!! OralverZEHR!“ „Hihiii – der ist gut!“

Oh Mann. Wusste gar nicht, dass hormongebeutelte Teenager während ihres Praktikums ganze Kampagnen texten dürfen.

Und falls ich mir als Frau so ein Getränk kaufe und mich damit in der Öffentlichkeit bewege, muss ich mich dann auf sexistisch dämliche Sprüche gefasst machen? Und vor allem – soll Werbung ein Produkt denn nicht attraktiv machen? Ein viertel Liter „Samenspender aus gutem Hause“? Na dann, guten Appetit.

Die Beurteiler

Herze, willst du ganz genesen, sei selber wahr, sei selber rein! Was wir in Welt und Menschen lesen, ist nur der eigne Widerschein. Theodor Fontane

Auf zehn Personen in einer Gruppe kommt diese eine, die bereits mit scharrenden Füßen Platz nimmt, um zwei Minuten später „endlich mal was los zu werden“, gern mit dem Hinweis vor jedem dritten Satz „Ihr kennt mich, ich bin halt so, ich sage meine Meinung“. Ja. Und das leider laut, ständig und mit einer Aggressivität, die keinen Raum für anders Denkende lässt. Wer kennt sie nicht, auf Elternabenden in Schulen oder Sportvereinen, im Job – die, die zetern, unterbrechen, stänkern, sich beschweren, anderen über den Mund fahren – und vor allem: Alles und jeden beurteilen. In meiner Schulzeit gab es eine Mutter, die zu fast jedem Anwesenden und zu jedem Thema eine, natürlich kontroverse, Meinung hatte. Ihren großen Auftritt hatte sie, als sie mit dem BGB wedelnd eine Skireise verhindern wollte. Ihr eigenes Kind und viele Eltern hätten ihr selbiges am liebsten um die Ohren gehauen.

Eine frühere Kollegin kam mir einmal auf dem Gang entgegen: „Ach, die Jacke ist ja schick. Viel besser als die gestern, die fand ich ja nicht so schmeichelhaft.“ Puh.
Beurteilen ist etwas, was automatisch jeder tut, doch muss es sein, dass man das, was einem durch die Hirnwindungen wandert, ständig ungefragt und laut ausspricht? Würde man die Beurteiler fragen, würden neun von zehn etwas von „Ehrlichkeit“ reden, die oft verwechselt wird mit mangelndem Taktgefühl und der offensichtlichen Selbstüberschätzung, dass jeder daran interessiert ist, ihre „Ehrlichkeiten“ zu hören.
Empathie, Einfühlungsvermögen, Zurückhaltung – alles nicht mehr so angesagt? Man könnte meinen, die Ansichten, Be- und Verurteilungen blubbern einfach so und ungefiltert aus den Menschen heraus. Was denken die? Denken die vorher? Ist es schlechtes Benehmen, Wichtigtuerei, ein Hang zur Selbstdarstellung – „Ich werte, also bin ich“? Eine Selbsterhebung über die Mitmenschen, nach dem Motto „Von oben schaut es sich am schönsten“?

Die Kinder kamen neulich von einer Verwandten wieder, die ein paar Tage zuvor das erste Mal unsere Hunde gesehen hatte, bei einem Familienfest in unserem Zuhause. Unser Labrador Schröder ist noch immer etwas übergewichtig, wir haben ihn noch schwerer vor ein paar Monaten aus dem Tierheim adoptiert, seitdem geht es mit seiner Leibesfülle in kleinen Häppchen abwärts. Die Kinder kamen nach Hause und erzählten: „M. hat beim Kaffeetrinken gesagt, dass Schröder ja immer noch viel zu dick ist. Und Lucky ist viel niedlicher.“ Ich fragte, ob M. denn auch noch etwas Nettes gesagt hätte? „Nein, nur dass er zu dick ist.“
Da sitzt ein Mensch an unserem Tisch, weiß um die Geschichte, befindet sich ein paar Tage später in anderer Runde wieder an einer Kaffeetafel – und hat nichts weiter zu erzählen als das? Während die Kinder, zu denen die Hunde gehören, daneben sitzen? Aber hey! Meine Meinung! Meine Bewertung. Die muss raus. Egal ob passend, fair oder feinfühlig. Auffällig, dass die laut ausgesprochenen Bewertungen meist negativ sind, ab und zu in ein bisschen Glitzerpapier eingeschlagen wie „Der ist viel niedlicher“ oder „Das ist nicht so hässlich wie das andere“.

Und was treibt Menschen nun dazu an, ständig zu bewerten und zu beurteilen? Warum produzieren sie soviel Negatives?

Ist es die eigene Unzufriedenheit, die sie gleichmäßig auf andere verteilen möchten, damit sie selbst nicht so schwer daran tragen müssen?

Ist die eigene Graupalette erträglicher, wenn die anderen nicht ganz so bunt leuchten?

Und wenn wieder einmal jemand vor einem steht, der meint, er müsse den Daumen nach unten verbalisieren, muss man sich vielleicht vor Augen führen: Es ist seine Negativität, es ist seine Sicht auf die Welt, seine laute Äußerung, sein Gift. Und dann schafft man es vielleicht, das Negative an sich abprallen zu lassen, es nicht anzunehmen. Oder wie Buddha sagt: „Wenn Dir jemand ein Geschenk anbietet – und Du nimmst es nicht an, wem gehört dann das Geschenk?“

Hundsbrief

Hamburg. Im Mai 2016.

Gestern bist Du, Großer, mit meiner Lieblingsstiefelette in der Schnauze an mir vorbei getobt, den Kopf wild schleudernd, schwanzwedelnd und so in Schwung gekommen, dass Du fast gehüpft bist. 40 Kilo Labrador. Du bist zu dick. Und wir können nicht genug von Dir bekommen.
Und Du, Du kleiner Kläffer – Du hast mir gerade vor Freude fast Löcher in meine Strumpfhose gesprungen. Richtig böse sein kann ich Dir nicht.

Als Weißer Schäferhund solltet Ihr in diesen Wochen eigentlich geboren werden, oder im Sommer, als Elo. Das war der Plan. Ein (!) Welpe solltet Ihr sein. Nach reiflicher Überlegung, Pro und Contra, durchgeklickten Internetseiten und Gesprächen entschieden wir uns gegen einen Hund aus Rumänien oder Griechenland – unbeschwert und nur von uns geprägt sollte unser Familienhund sein. Und doch war ich zwischendurch immer wieder auf den Tierheimseiten unterwegs, denn eine leise Stimme flüsterte unentwegt: „Es gibt so viele Tiere, die ein Zuhause brauchen, warum ein extra gezüchtetes? Vielleicht wartet irgendwo jemand auf Euch, der sonst keine große Chance hätte.“ Ich schob das zur Seite, der Termin war gemacht, alles war gut durchdacht.
Und dann kamt Ihr.
Und das Herz. Und irgendwas von ganz oben, was mich an diesem einen Tag auf die Website des Hamburger Tierschutzvereins gucken ließ, auf die Seite mit den großen Hunden. Aufgeregt habe ich die Seite mit Euch weitergeleitet, „Das sind sie, das sind unsere Hunde“, kam prompt zurück. Lucky und Schröder. Was für ein Gespann. Im Tierheim sagte man uns, dass ein Duo in Hamburg immer schwerer zu vermitteln sei, doch man wolle alles versuchen, damit man Euch nicht trennen müsse. Die Mitarbeiter waren alle sehr nett, kompetent und engagiert – und ein paar Tage später standen wir vor Eurem Zwinger. Euer Herrchen war vor ein paar Wochen gestorben, man sagte uns, dass Du Schröder, anfangs niemanden an Dich heran ließest, jeder wurde weggebellt, zu groß waren die Trauer und die Verwirrung. Und als wir da so am Gitter standen, gingst Du, Schröder, nach hinten, und auf dem Weg dort hin hieltest Du kurz an und drehtest Dich nach Deinem Freund Lucky um, der Dir bereits auf den Fersen war. Dieses Bild ist geblieben. Euch trennen? Unmöglich.

Die Entscheidung musste nicht überlegt und gefällt werden. Sie war einfach da. So wie Ihr. Fast jeden Tag haben wir Euch besucht, vor zweieinhalb Wochen seid Ihr eingezogen. Jetzt haben wir keinen Kofferraum mehr. Dafür überall viele Haare. Unseren Teppich lassen wir morgen abholen, denn Du, Schröder, hast gleich getestet, wie wir mit brechenden Hunden umgehen können. Dass der Kater keine Beute ist, hast Du inzwischen raus, und Lucky, Du merkst, dass Simba Dir nichts tut, wenn Du ihn in Ruhe lässt. Am dritten gemeinsamen Tag waren wir im Freilauf. Der Bauch sagte ja, aber nervös waren wir trotzdem, als wir Eure Leinen lösten. Ihr seid bei uns geblieben. Und wir bleiben bei Euch.

Wenn Menschen mit Tieren nichts anfangen können, werden sie mit diesen Zeilen sicher ebenfalls nicht warm. Doch für uns seid Ihr innerhalb weniger Stunden zu Familienmitgliedern geworden. Eure Seele, Euer Wesen, Eure Zuneigung, das kann man schwer in Worte fassen, Eure Nähe tut uns allen gut. Ihr trauert noch, das merken wir. Als ich Dir vorgestern den Rücken kraulte, legtest Du Deine Pfote auf meinen Fuß, Schröder, und gucktest mich so intensiv und traurig an, stießt einen tiefen Seufzer aus und machtest die Augen dabei zu. Als wolltest Du sagen „Geschafft“. Und, Lucky, Du magst uns am liebsten gar nicht aus Deinem Blick lassen. Es ist eine Wohltat zu sehen, wenn Du kleines Energiebündel doch mal in Ruhe einschlafen kannst. Eure Freude, wenn wir durch die Tür kommen, ist mehr als überschwänglich, als könntet Ihr es gar nicht fassen, dass wir wirklich immer wieder kommen. Die Zeit wird die Wunden heilen und uns noch weiter zusammen wachsen lassen, das wissen wir.
„Und Sie wollen einen Zoo aufmachen, Frau Schröder?“, fragte mich die Tierärztin. Nein. Es bleibt bei zwei Katzen und zwei Hunden. Und die Kätzchen sind ebenfalls per Zufall zu uns gekommen. Zufall? „Mama, es fühlt sich ein bisschen so an, als hätten Lucky und Schröder sich auch uns ausgesucht“. Herz.

Willkommen Zuhause, Lucky & Schröder!

 

 

 

Empathiebulldozer

„Mama, Frau U. sagt, Simba und Charly – die werden sich nicht mit den Hunden vertragen. Stimmt das?“, die Unterlippe meiner Tochter zittert, der Gedanke daran, dass etwas dem Einzug unserer neuen Familienmitglieder im Weg stehen könnte, treibt ihr die Tränen in die Augen.

Wie bitte? Was hat sie gesagt? Woher weiß sie denn das? Und vor allem: Warum äußert sie das? „Also meine Mimi mag gar nicht mehr in den Garten gehen, seitdem der Nachbar einen Hund hat. Hunde und Katzen – die vertragen sich nun wirklich nicht. Das KANN nicht klappen.“
Und dieses wertvolle Pseudowissen muss sie einem kleinen Mädchen, welches euphorisch vor ihr steht, aufs Pausenbrot schmieren? Doch sie ist leider nicht die Erste und die Einzige, die so denkt und so handelt. „Ihr selbstgerechten Klugscheißer!“, möchte ich brüllen. Da steht eine Siebenjährige, die mit leuchtenden Augen von ihren neuen Haustieren erzählt – und ihr könnt nicht einfach mal die Klappe halten? Oder sagen „Ach, das wird schon“? Da muss ein Erwachsener im tiefsten Bereich seines Suppentellers umher stolzierend, nicht den Rand und erst recht nicht darüber hinaus sehen könnend, seine Erfahrung als allgemeingültige Regel einem Mitmenschen vor den Latz knallen?

Niemals müde werde ich, meinen Kindern zu erklären, dass alle Menschen verschieden sind, dass jeder Mensch basierend auf seiner Lebenserfahrung, seines Charakters und äußerer Umstände unterschiedliche Erfahrungen macht und dieselben Dinge grundverschieden erleben, sehen und fühlen kann – und dann kommen regelmäßig Empathiebulldozer und walzen einfach rüber über die gepredigte Vielfalt. Wie arrogant, wie überheblich, wie vermessen.
Davon auszugehen, dass der eigene Erfahrungshorizont der Maßstab für alles und jeden ist, macht nicht nur unsympathisch, es wirkt auch dumm. In diesem Fall herzensdumm. Kein Gedanke daran, was man bei dem anderen anrichtet, wie das Gegenüber sich fühlen muss, wenn man seinen kleinen Mikrokosmos ungefragt als Nabel der Welt darstellt. Und das auch noch völlig überflüssig. Diese Äußerung hatte keinen Mehrwert, hatte keinen Nutzen, es gab keinen guten Rat. Nur daher geplappertes, unreflektiertes, eindimensionales verbales Erbrechen.

Ob sich Hund und Katz verstehen? Ich hörte, dass sich da ein Pudel und eine Katze nicht riechen können. Und ich bekam von einem Boxer erzählt, der mit dem Kater sein Körbchen teilt.
Vor unserer Haustür sehe ich ab und zu Katzen, die unbeeindruckt an Hunden vorbei stolzieren, während diese gelangweilt in die Luft schnüffeln.
Doch laut Frau U. hat ihre Erfahrung eine allgemeine Gültigkeit – ihre Mimi mag immerhin nicht mehr in den Garten, seitdem der Nachbarhund am Zaun sitzt.
Liebe Frau U., vielleicht ist es auch so: Vielleicht ist Mimi einfach ’ne Pussy.

Von F**** bis F*****

Rilkehack„Ey, Herr T., wie heißt Fotze nochmal richtig?“ – ich gebe zu, ich habe schallend gelacht, als meine Freundin mir von der Unterrichtsstunde ihres Kollegen erzählte. Aber wann, verdammte Scheiße, fing das eigentlich an? Wann wurde aus durchgebratenen Buletten ein Klumpen Mett mit Zwiebeln? Wann ging das los – mit der Verrohung der Sprache? Fielen „Verdammt“ und „Scheiße“ auch nur in einem Satz, gab es in meiner Kindheit einen Vortrag. Das F-Wort kam aus keinem Munde, nur die ganz üblen Gestalten hörte man solche Sachen grölen – die, die am Bahnhof standen und den ganzen Tag besoffen waren.
Heute kommt meine Tochter von der Grundschule nach Hause und fragt, was eigentlich „Ficken“ heißt – und aus „Blöde Kuh“ und „Idiot“ wurde „Schlampe“ und „Wichser“. Hinzu kommt die absolute Offenbarung der Einfältigkeit an jeder onlinesozialen Ecke: Das „geile neue“ Cap und die geile Handbewegung dazu, der „total tolle“ Green Smoothie mit total dämlichem Duckface dazu – aber kein gerader Satz mit guter Ausdrucksweise weit und breit? Zehn neue Zeitschriftenabos möchte ich aus Protest abschließen – und offline gehen. Auf den Baum zurück. Zurück in die Achtziger! Aber nur, wenn ich dafür nicht wieder Bon-Jovi-Frisur und bauchfrei tragen muss.