Nur eine Nacht

Wir liegen im Bett, es ist noch dunkel. Über das Kopfkissen fallen seine langen dunklen Haare. Ich habe Angst. „Muss das denn sein? Kannst du sie nicht verschonen?“ Mit halb geschlossenen Lidern antwortet er: „Du weißt, dass das nicht geht. Ich muss sie töten, sonst vergehe ich.“ , die Wände wispern sich seine sanfte Stimme im Echo zu. Dann schläft er ein.

Mit zittriger Hand schlage ich die Decke zurück und steige aus dem Bett, schleiche zur Treppe und setze mit klopfendem Herzen Stufe für Stufe meine Zehen auf das kühle Holz. Unten angekommen öffne ich die Zimmertür meiner Eltern. Sie schlafen ruhig während ich die Tür hinter mir schließe. „Mama, Papa, schnell, ihr müsst aufwachen! Wir müssen hier weg, sonst bringt er uns alle um!“ Im Schlafanzug springt meine Mutter mit offenen Augen aus dem Bett als wäre sie nie eingeschlafen, mein Vater schlägt die Decke zurück und hat seinen guten Anzug an, als wäre er gerade aus dem Büro gekommen. Vorsichtig drücke ich die Klinke herunter und spähe die Treppe hinauf. Nichts regt sich. Wir laufen in das Erdgeschoss, raus in die kalte Nachtluft, der Wind weht durch mein Shirt und streift mit eisigen Fingern über meine Haut, meine Poren ziehen sich zusammen. Dann sitzen wir im Auto.
Mein Vater steuert den Geländewagen über Baumwurzeln und Schlaglöcher, frierend sitzen meine Mutter und ich auf der Rückbank. „Papa, wir müssen zu Van Helsings Haus! Er ist der Einzige, bei dem wir sicher sind.“ Vorbei an schönen Holzhäusern rasen wir die Allee entlang, doch das letzte Haus ist schnell erreicht – wir sind zu weit gefahren. Meine Hände werden feucht, ich schaue ich aus dem Fenster über die Felder, mein Kopf schmerzt, in meinen Schläfen pocht es. Noch hat er uns nicht gefunden. Noch nicht. Staub fliegt durch die Luft als wir wenden und den Weg zurückfahren, doch wieder kommen wir am Ende der Allee an, ohne unser Ziel erreicht zu haben. „Ich verstehe das nicht, wo ist Van Helsings Haus?“

Wir halten an einem Marktplatz, inzwischen graut der Morgen und die Verkäufer packen emsig ihre Waren aus. Ich bin nass geschwitzt, halte die Hand meiner Mutter. Laut rauscht das Blut durch meine Adern und durch die Flut hindurch vernehme ich seine ruhige, warme und gleichzeitig bedrohliche Stimme. Was er flüstert, kann ich kann nicht verstehen, doch mein Blick saugt sich durch die Menge direkt in seine Augen. Eingehüllt in einen langen schwarzen Umhang steht er zwischen den umherlaufenden Menschen, den Mund leicht geöffnet, die scharfen Eckzähne nun sichtbar, seine Haare wehen im Wind. Seine Lippen bewegen sich nicht, aber ich kann ihn hören: „Versuche nicht vor mir wegzulaufen.“ Er reckt den Kopf gen Himmel und schnüffelt, während er einen Fuß vor den anderen setzt. Mein Blut! Er kann mich riechen! Ich schreie meinen Vater an: „Fahr los!! Schnell!“ Und während wir davonrasen, greife ich zum Benzinkanister und schraube ihn auf: „Hier, wir müssen uns damit einreiben, sonst riecht er uns.“ Meine Mutter und ich streichen das stechend riechende Benzin über Hals, Gesicht und Arme, es brennt, und die Haut fängt an, sich zu spannen. An einem Gasthaus halten wir.

Das Gasthaus steht auf Pfählen, und als wir die Treppe hochlaufen und eintreten, bietet sich uns ein seltsames Bild. Es stehen nur zwei lange helle Tische mit Bänken im Raum, an denen viele Menschen in Gruppen sitzen, ein paar einzelne dazwischen, die isoliert zu sein scheinen. Ich frage den Wirt, was mit den Menschen ist, die so allein dort sitzen. „Vampire sind das. Mit denen möchte niemand etwas zu tun haben. Aber hier im Gasthaus sind sie ungefährlich.“ In dem Moment gellt ein spitzer Schrei durch den Raum, ein männlicher Gast ist aus dem großen geöffneten Fenster gefallen und liegt nun seltsam verrenkt am Fuße eines Pfahles. Die Isolierten heben den Kopf und fangen an zu schnüffeln. Übermut überkommt mich, ich schlendere zu einem besonders nervösen Vampir an das andere Ende des Tisches und stelle mich hinter ihn. Immer wieder schlage ich ihm mit meiner flachen Hand leicht gegen den Hinterkopf: „Na? Worauf wartest Du? Das Büffet ist eröffnet!“

In diesem Moment bin ich aufgewacht, weil mein Wecker klingelte.
Fix und fertig rollte ich mich aus dem Bett und schwor mir, keine Seite mehr in diesem Buch zu lesen. Ich mag Vampirfilme, mich fasziniert dieses Thema, aber für eine Abendlektüre ist mein Nervenkostüm anscheinend zu schwach – und meine Fantasie zu rege. Wer es trotzdem ausprobieren möchte: Tom Holland, „Die Botschaft des Vampirs“ Keine Ahnung, ob das Buch gut ist, ich bin nur bis Seite 40 gekommen.

Song des Tages: The Goo Goo Dolls, „Iris“

4 Gedanken zu „Nur eine Nacht

  1. Van Burnsing sagt:

    Zwei Dinge, Emma.

    1. Ich träum seit meiner Kindheit in größeren Intervallen von Vampiren. Und auch wenn ich mich vor keinem Buch oder Film mehr grusele, im Traum hab ich immer noch Angst.

    2. Die Ronan Keating Version von „Iris“ hätte aber nicht sein müssen.

  2. Julia Emma Schröder sagt:

    @ van burnsing (schöner name!):

    zu 1. Ehrlich gesagt war mir den ganzen Tag über noch komisch. Und immer dieser leichte Benzingeruch in der Nase …

    zu 2. Nein, nein, nein! „Dizzy up the Girl“ heißt die Goo-Goo-Dolls-Platte – und ich war doll in den Sänger Johnny Rzeznik verknallt. Beim Hurricane-Festival vor ein paar Jahren habe ich mir vor der Zeltbühne fast alle Rippen gebrochen, nur um in der ersten Reihe zu stehen.
    Und das Lied ist immer noch schön, aber eben nur mit genau der Stimme, nicht mit Ronan Keating. Also bitte.

  3. Maunamea sagt:

    Ich war immer sehr neidisch auf Leute, die eine Beziehung zu Vampiren haben. Mir fehlt das irgendwie. Eine Freundin von mir ging mal in völligem Vampir-Wahn auf und kleidete sich auch dementsprechend. Ich kam da irgendwie nicht mit. Vielleicht kauf mir ja mal das Buch.

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