Herze, willst du ganz genesen, sei selber wahr, sei selber rein! Was wir in Welt und Menschen lesen, ist nur der eigne Widerschein. Theodor Fontane
Auf zehn Personen in einer Gruppe kommt diese eine, die bereits mit scharrenden Füßen Platz nimmt, um zwei Minuten später „endlich mal was los zu werden“, gern mit dem Hinweis vor jedem dritten Satz „Ihr kennt mich, ich bin halt so, ich sage meine Meinung“. Ja. Und das leider laut, ständig und mit einer Aggressivität, die keinen Raum für anders Denkende lässt. Wer kennt sie nicht, auf Elternabenden in Schulen oder Sportvereinen, im Job – die, die zetern, unterbrechen, stänkern, sich beschweren, anderen über den Mund fahren – und vor allem: Alles und jeden beurteilen. In meiner Schulzeit gab es eine Mutter, die zu fast jedem Anwesenden und zu jedem Thema eine, natürlich kontroverse, Meinung hatte. Ihren großen Auftritt hatte sie, als sie mit dem BGB wedelnd eine Skireise verhindern wollte. Ihr eigenes Kind und viele Eltern hätten ihr selbiges am liebsten um die Ohren gehauen.
Eine frühere Kollegin kam mir einmal auf dem Gang entgegen: „Ach, die Jacke ist ja schick. Viel besser als die gestern, die fand ich ja nicht so schmeichelhaft.“ Puh.
Beurteilen ist etwas, was automatisch jeder tut, doch muss es sein, dass man das, was einem durch die Hirnwindungen wandert, ständig ungefragt und laut ausspricht? Würde man die Beurteiler fragen, würden neun von zehn etwas von „Ehrlichkeit“ reden, die oft verwechselt wird mit mangelndem Taktgefühl und der offensichtlichen Selbstüberschätzung, dass jeder daran interessiert ist, ihre „Ehrlichkeiten“ zu hören.
Empathie, Einfühlungsvermögen, Zurückhaltung – alles nicht mehr so angesagt? Man könnte meinen, die Ansichten, Be- und Verurteilungen blubbern einfach so und ungefiltert aus den Menschen heraus. Was denken die? Denken die vorher? Ist es schlechtes Benehmen, Wichtigtuerei, ein Hang zur Selbstdarstellung – „Ich werte, also bin ich“? Eine Selbsterhebung über die Mitmenschen, nach dem Motto „Von oben schaut es sich am schönsten“?
Die Kinder kamen neulich von einer Verwandten wieder, die ein paar Tage zuvor das erste Mal unsere Hunde gesehen hatte, bei einem Familienfest in unserem Zuhause. Unser Labrador Schröder ist noch immer etwas übergewichtig, wir haben ihn noch schwerer vor ein paar Monaten aus dem Tierheim adoptiert, seitdem geht es mit seiner Leibesfülle in kleinen Häppchen abwärts. Die Kinder kamen nach Hause und erzählten: „M. hat beim Kaffeetrinken gesagt, dass Schröder ja immer noch viel zu dick ist. Und Lucky ist viel niedlicher.“ Ich fragte, ob M. denn auch noch etwas Nettes gesagt hätte? „Nein, nur dass er zu dick ist.“
Da sitzt ein Mensch an unserem Tisch, weiß um die Geschichte, befindet sich ein paar Tage später in anderer Runde wieder an einer Kaffeetafel – und hat nichts weiter zu erzählen als das? Während die Kinder, zu denen die Hunde gehören, daneben sitzen? Aber hey! Meine Meinung! Meine Bewertung. Die muss raus. Egal ob passend, fair oder feinfühlig. Auffällig, dass die laut ausgesprochenen Bewertungen meist negativ sind, ab und zu in ein bisschen Glitzerpapier eingeschlagen wie „Der ist viel niedlicher“ oder „Das ist nicht so hässlich wie das andere“.
Und was treibt Menschen nun dazu an, ständig zu bewerten und zu beurteilen? Warum produzieren sie soviel Negatives?
Ist es die eigene Unzufriedenheit, die sie gleichmäßig auf andere verteilen möchten, damit sie selbst nicht so schwer daran tragen müssen?
Ist die eigene Graupalette erträglicher, wenn die anderen nicht ganz so bunt leuchten?
Und wenn wieder einmal jemand vor einem steht, der meint, er müsse den Daumen nach unten verbalisieren, muss man sich vielleicht vor Augen führen: Es ist seine Negativität, es ist seine Sicht auf die Welt, seine laute Äußerung, sein Gift. Und dann schafft man es vielleicht, das Negative an sich abprallen zu lassen, es nicht anzunehmen. Oder wie Buddha sagt: „Wenn Dir jemand ein Geschenk anbietet – und Du nimmst es nicht an, wem gehört dann das Geschenk?“