Vor 25 Jahren

Mein Opa Billie kommt auf das Gartentor zu, wie der Sand unter seinen Lederschuhen knirscht, höre ich genau – und ich mag das Geräusch. So klingt das unter seinen Schuhen immer, es hat etwas Beruhigendes. Bei allen Schuhen, die ich besitze, habe ich angestrengt gelauscht, doch dieses leise Knirschen wollte sich unter meinen Sohlen nie einstellen.

Mit einem verschmitzten Lächeln steht er dort auf der anderen Seite des Holzes, eine Hand hinterm Rücken. Meinen Plastikball lasse ich fallen und laufe auf ihn zu. Langsam zieht er den Arm nach vorn und da liegt sie: meine erste Platte!
ORS, „Lady Lady Lady“. Ich umarme Billie und laufe mit meinem Schatz, hüpfendem Herzen und roten Wangen ins Haus: „Mamaaaa!“

Einen Plattenspieler kann ich noch nicht bedienen, ich bin erst Fünf, aber meine Eltern sind auch beim sechsten Mal geduldig und hören meinem begeisterten Singsang zu, der Text im Refrain ging ungefähr so:

Sie:
„Er ist so nett, doch vielleicht zu jung für mich. Aber ich mag, ich mag die Art so wie er spricht. Ich glaub‘, wir würden – uns gut versteeeeehn“
Er:
„Lady Lady Lady Lady Lady, Lady Lady – lass mich Deine Träume sehen“
Sie:
„Uala, lala, lala lalahaaa“
Er:
„Lady Lady Lady Lady, Lady Lady – lass Dich geh’n“
Sie:
„Uala, lala, lala lalaaaa“

Und dann kommt eine Zeile, die man kaum versteht, weil der Sänger sie höher kreischt als Robin Gibb es je getan hat.
Eine schräge Mischung aus Dschingis Khan und Bee Gees, das trifft es. Orlando Riva Sound – man beachte bitte den extraordinären Goldanzug des Herren in der Mitte – und die Siegerpose, in dem er der Sängerin seinen Fuß auf das Knie stellt. Tsss.

Ich muss nicht erwähnen, dass ich den Text damals inhaltlich nicht wirklich erfasst habe – und dass ich das Lied noch immer gern höre. Das ist ein wirklich schlimmes Lied, aber diese nostalgischen Verblendungen aus der Kindheit wird man nie mehr los. Und ich wehre mich nicht dagegen, „Lady Lady Lady Lady, Lady …“.

Noch 1 Mal und ich …

Eine unterhaltsame Rossini-Oper läuft gerade 100 Meter Luftlinie vor mir über die Bühne, ich lehne mich in meinem unbequemen Samtsitz zurück und bin rundum friedlich.
Plötzlich keucht es knapp hinter meinem linken Ohrläppchen.
Hüsteleien, ich bitte Euch, darüber guckt man mit einem kleinen Lidflattern hinweg. Doch dieses Keuchen steigert sich in ein Gegurgel, wie die kleinen Plastikmundsauger beim Zahnarzt machen. Langsam steigt mir etwas Hitze hoch, mein Kopf zuckt ein bisschen nach links. Und dann tönt träge Schnodderei durch die nächsten 60 Sekunden.

Drei Sekunden Pause.

Dann blubbert es von unten hoch. Schnieft. Und schnoddert wieder. Er zieht hoch! Der Opa hinter mir zieht schamlos und mitten in einer Arie zwei Pfund Schleim hoch, lässt wieder runterlaufen, um ihn dann mit einer Vehemenz erneut hochzureißen, mit der Ameisenbären sonst Hügel aussaugen.
Nach dem sechsten Mal laufen meine Ohrenspitzen rot an, meine Hand liegt auf der Tasche, in der sich leider keine 9 mm Halbautomatik befindet, sondern eine Packung Taschentücher. Warum sagt seine Frau denn nichts??? Was ist denn das für eine belästigende Ignoranz und Ekelhaftigkeit??? Und wie läuft das denn dort zu Hause ab? Leute, die bei solchen Geräuschen abgestumpft ausblenden, die gucken sich doch auch beim Scheissen zu!

Und dann Applaus und ein letzter kräftiger Zieher. Stille hinter mir. Kurz drehe ich mich um, um zu sehen, ob er sich eventuell das Hirn an der Schädelrückwand platt gesaugt hat, doch er sitzt zufrieden und aufrecht und applaudiert. Fast wäre ich Teil der Ungeduldig & Jähzornig-Bewegung geworden. Das war knapp. Sehr knapp.

Song des Tages: K‘s Choice, „Not An Addict“

Das Ende

Wenn ich in einen Kinofilm gehe, um mit einer Freundin ein bisschen in seichter Unterhaltung zu planschen, dann brauche ich verdammt noch mal ein Happy-End! Und dann sitzen Jessica und ich da, gucken Uma Thurman und ihrer jungen Schnitte beim Poppen zu, lachen über Meryl Streep und leiden und juchzen leise vor uns hin – in dem festen Glauben, dass alles sehr gut wird. Und? Sie lieben sich, aber sie können nicht. Abspann.
Da kann ich nicht drauf. Da kann ich wirklich gar nicht drauf. Das ist wie Marsriegel hinhalten, einmal dran lecken lassen und wieder wegziehen. Das ist mies.

Wo ist mein Dienstagshappyend? Nicht einmal irgendein Film mit perfektem Ende will mir jetzt einfallen …

Song des Tages: Led Zeppelin, „Hey Hey What Can I Do“

4 Tage

Bis diese grässliche Woche zu Ende ist. Grau, Schneematsch, Grau, Regen, Grau. Lustig ist das doch nicht mehr. Gestern mit dem Fahrrad fast auf‘s Gesicht gepackt, da die Thadenstraße so vereist war, nasse Jeansbeine, eiskalte Finger in dicken Handschuhen. Fiese kleine Meckermonster laufen durch meine Nervenbahnen, zerren daran herum und zertrampeln meine Neurotransmitter – das macht maulig und ungerecht.

Das einzig Interessante, was dieses Wetter irgendwann zwangsweise mit sich bringt, ist die Nutzung öffentlicher Verkehrsmittel. Und obwohl ich zu der Spezies gehöre, die unfreiwilligen Körperkontakt aufgrund von Platzmangel quälend findet, beobachte ich fasziniert das Drumherum: Menschen, die mit sich selbst sprechen – da höre ich gern zu, vielleicht haben sie sich ja spannende Dinge zu erzählen. Frühsport an „Wir trennen Müll“-Behältern – ein Bein rauf und Dehnungsübungen andeuten – da gucke ich gern zu, vielleicht lerne ich noch etwas?
Nur wenn jemand wie festgeschraubt neben mir steht und mir die ganze Zeit mit einem nicht zu deutenden Ausdruck ins Gesicht starrt, da gehe ich lieber weiter.
In diesem Stadtteil gibt es eben doch noch mehr Drogen als Dönerbuden.

Song des Tages: Black Rebel Motorcycle Club, „Ain‘t No Easy Way“

Fragezeichen

Ein Wochenende offline, leichte Entzugserscheinungen stellen sich ein. Könnte auch mit der ungewohnt heftigen Sauerstoffzufuhr durch gestriges Joggen in den Wallanlagen zu tun haben. Egal, hier der Fragebogen von Matt und Mek:

Vier Jobs die ich mal hatte:
# Eisverkäuferin
# Fließband-Warenrücknahme beim Otto-Versand
# Flohmarktordner
# Kellnerin

Vier Filme, die ich mir immer wieder ansehen kann:
# König der Fischer
# Rocky IV
# Wie im Himmel
# Italienisch für Anfänger

Vier Städte in denen ich gelebt habe:
# Hamburg
# Amsterdam
# München
# Hamburg

Vier TV Shows die ich liebe:
# Genial daneben
# NDR-Talkshow
# Desperate Housewifes
# und mehr fällt mir nicht ein

Vier Plätze an denen ich Urlaub gemacht habe:
# Kaua’i (Hawaii)
# Amsterdam
# Laboe
# Seattle

Vier Sachen, die ich gerne esse:
# Nudeln, in jeder Form und Farbe
# Schokolade
# Bananenbrei
# Käse

Vier Seiten, die ich täglich besuche:
# Die Rückseite der Reeperbahn
# Joshuatree
# Mequito
# Lyssas Lounge

Vier Plätze, an denen ich jetzt lieber wäre:
# links von der Sonne
# rechts von der Sonne
# unter der Sonne
# am Strand in der Sonne

Vier Leute, die diese Fragen auch beantworten sollen:
# Joshuatree
# eigentlich Carlos, Cyberholic – machste sowas?
# Zahnwart
# Poldisgirl

Das war’s? Das war’s. Prima, ich muss los.

Song des Tages: Arctic Monkeys, „Mardy Bum“

Elefantenmus


Manche Vorlieben sind interessant. Und ich rede hier nicht von Lack, Leder oder Gummi, von Menschen, die gern beschimpft werden oder nie vom Schnuller loskommen.
Essensgelüste meine ich, Gerichte, die uns seit unserer Kindheit nicht aus ihren geschmacklich verirrten Klauen lassen – Brot mit Butter und fingerdick Zucker drüber zum Beispiel. Großartig. Doch nichts, aber auch gar nichts kam an Bananenbrei heran, und der geht folgendermaßen: eine Banane, mit der Gabel zerdrücken, zwei bis drei Schuss Dosenmilch darüber, einen Teelöffel Zucker – und alles vermischen. Zugegeben, es sieht ein bisschen aus wie Kotze, schmeckt aber fantastisch. Einfach Augen zu beim Essen.

Schönster Satz nach einem Abend im Aurel: „Darf ich was Doofes sagen? Pass bitte auf mit den Kopfhörern beim Fahrrad fahren.“
Ich mag es, wenn Freunde genauso gluckig-besorgt sind wie ich. Das gibt mir ein warmes Gefühl.

Song des Tages: Jeff Buckley, „Hallelujah“

Mitgehört

Unterhaltung zweier 14jähriger:

„Ey Digger, lass ma heute noch was starten ey.“
„Joooaah, ma sehen ne …“
„Digger, Digger!! Wir müssen noch was reissen ey, Digger, wo geht denn was?“
„Öööh. Weiß nich, Digger“
„Digger, jeder muss seine Geschäfte machen. Lass mal zu dem Center, die Schließfächer sind leicht ey.“
„Okay, Digger, können wir machen …“
„Das wird cool, Digger. Ich sach Dir, Digger, das is voll easy.“

Gern wäre ich erzieherisch tätig geworden. Aber diese Kinder waren zwei Köpfe größer.

Song des Tages, ganz groß: Skid Row, „In A Darkened Room“

Hauptstadtnächte


Zwei Frauen in Berlin: 2 Nächte & 9 Stunden Schlaf, Becks & Rotwein, Russenpension & Klokombüse, Espressobar & neue Menschen, Niels Frevert & Erdmöbel, Mavi-Jeans & Modeparty, 6-Tage-Rennen, Italiener & 60ies-Soul, Gute-Nacht-Geschichten & Schokocroissant, Coffy & Ringe unter den Augen.

Nach sieben Stunden Messemarathon auf der Modemesse Bread & Butter liege ich in der Pension Bella auf dem Bett, ein Becks in der Hand, Sandra auf der anderen Betthälfte und wir lachen. Hat was von Klassenfahrt – ein Mädelswochenende in Berlin! Das Zimmer ist nett gesagt charmant, ehrlich gesagt schrottig, ein Drittel vom Raum ist abgetrennt, die Trennwand allerdings nicht bis zur Decke hochgezogen, sondern auf halber Strecke abgesägt, sodass eine Klokombüse den Raum schmückt. Spült man, erzeugt das so einen Unterdruck, dass es durch Mark und Bein röhrt. Auch wenn der Nachbar spült. Auch nachts. Und früh morgens.
Nach einer Stunde sitzen wir in der Volksbühne, Niels Frevert singt von sprechenden Messern und Sehnsucht, wir kuscheln uns in die roten Plüschsitze und trinken unser zweites Feierabendbier. Schön und schluffig schraddelt Frevert sein Programm, das Publikum mag ihn. Der Song, wegen dem ich hier überhaupt sitze, den hat er etwas eilig und trotzdem – „Wann kommst Du vorbei, lehnst Dich an mich, Du hast mein Herz so unaufgeräumt …“ Gänsehaut stellt sich ein, das Konzert hat sich in diesem Moment gelohnt, egal was da noch kommen mag.
Als Hauptband kommt Erdmöbel auf die Bühne. Selten eine so skurrile Band gesehen, der Gitarrist linst leicht irre grinsend durch die Publikumsreihen, und das erste Lied geht gar nicht. Doch „Russischbrot und Küsse …“ – das ist schön.

Auch schön ist, wenn man merkt, dass man etwas gut kann. Feiern zum Beispiel. Allerdings ist es hier schwierig, eine Entscheidung dagegen oder dafür zu fällen, wenn man doch kein Talent dafür hat. Zweimal hab ich mich mit Gitarre lernen abgemüht, stellt fest, das ist nicht meins – und habe es gelassen. Stört mich, aber mäßig. Doch würde ich fest stellen, dass ich nicht gut feiern kann, würde ich es dann tatsächlich eines Tages einfach sein lassen können?
Eigentlich auch egal – denn ich mache hier auf meiner Lebensliste ein Häkchen mit Plus. Selbst wenn eine Stunde 6-Tage-Rennen auf dem Amüsierplan steht.
Es ist heiß in der Halle, und unglaublich laut. Motorräder mit stehenden Menschen an den Lenkern rasen im Kreis, dahinter jeweils ein Radrennfahrer, auf der Werbetafel wird „Der große Preis der Steher“ eingeblendet. An mir läuft eine Frau mit hautenger Jeans, zugepastetem Gesicht und bis zur Starre gebleichten Haaren vorbei. Ihre Hose sitzt so tief, dass man froh sein kann, dass sie sie überhaupt zumacht, auf hohen Absätzen schiebt sie sich durch die Menge, die Freundin an ihrer Seite sieht aus wie die B-Seite der schlechten A-Seite. Aber sie sind jung, schlank und willig. Fragt sich nur, was sie wollen? Denn schaue ich mich im Radel-Rondel um, stehen fast nur alte, unattraktive Männer an den Tresen, mit Trillerpfeiffen im Mund und Alkohol in der Hand. Ich stelle mir solche Typen beim Harken des Vorgartens ihres Campingdauerplatzes vor, doch weit gefehlt – hier steht angeblich das Geld, wofür die Mädels sich so ins Hohlkreuz werfen. Alle weiteren Vorstellungen möchte ich meiner Fantasie ersparen.

Nach einer weiteren langen Nacht, durchtanzt und durchquatscht im Coffy, einem Sixties-Soul-Laden, schlurfen wir in die Pension Bella, um unsere Sachen zu packen. Da wir erst um halb Elf dort ankommen, lohnt sich Hinlegen nicht mehr wirklich und so setzen wir uns direkt an den Frühstückstisch. Es ist so still im Raum, dass eine Unterhaltung unmöglich ist. Mit roten Augen, übermüdet und albern gackern wir unser Frühstück in uns hinein, sagen Zimmer Nummer Sieben „Tschüss“ und laufen zum Bahnhof Zoo.
Mehr oder weniger schlafend überstehen wir die Zugfahrt und steigen Dammtor aus, die Winterlandschaft der Wallanlagen vor meinen Füßen. Kurzerhand entschließe ich mich, durch den Park zu gehen, um nach Hause zu kommen, alles ist bedeckt von Schnee, Kinder schlittern auf dem zugefroreren See, die Luft klirrt leise vor sich hin, die Sträucher im Rosengarten haben Mützen auf, alles friert.
Langsam bummel ich die Wege entlang, der Trolly ächzt durch den bedeckten Weg. Ich hatte durchaus schon bessere Ideen, als einen Koffer durch schneebedeckte Pfade zu ziehen, doch ich halte mich wacker.

Link zur Gallerie gibt es bei netter Anfrage an 2boots@gmx.de. Vielleicht.

Song des Tages: Damian Rice, „The Blowers Daughter“