„Können Sie mir sagen, wie spät es ist?“ Dunkle längere Haare, coole Klamotten – der Typ, der mich in der Alsterdorfer Straße anspricht, sieht gar nicht so jung aus. Ich mache den Mund auf, wieder zu, gucke ihn noch mal an, mir gehen viele Sätze durch den Kopf. Nur nicht die Uhrzeit. Hat der mich gerade gesiezt? Nun guckt er etwas irritiert, weil ich ihn anstarre, als hätte er einen Hund getreten. Um ihm keine Angst zu machen, antworte ich schnell: „Klar, es ist viertel nach drei“.
Als ich beim Friseur sitze, ist mein Wunsch nach „blonder, kürzer, mal was Auffälligeres“ futsch. Ich möchte mich auf die Suche nach grauen Strähnen begeben, die vielleicht eine Tönung nötig hätten, fast möchte ich um einen Haarschnitt „meinem Alter entsprechend“ bitten. Aber was genau wäre das dann? Pottschnitt? Glatze, damit die Perücken gut sitzen? Durchgestufter Bob? Mal „was Praktisches“?
Wie sehr müssen wir uns nach unserem Alter richten – und womit? Mit unserem Benehmen, mit unseren Klamotten, Frisuren? Mit dem, was uns interessiert oder was wir in unserer Freizeit machen? Wie viel wir trinken, wie viel Unsinn wir reden, wie laut wir lachen? Muss man ab einem bestimmten Alter etwas auf eine bestimmte Art tun oder lassen?
Ich weiß noch genau, wie ich mit 19 in meiner ersten Wohnung saß und überlegte, wie ich wohl mit 30 aussehen werde. 30 war uralt. Erwachsen. Der Spaß vorbei. Also habe ich die Zeit bis dahin so viele Partys gefeiert, war auf so vielen Konzerten und habe mich so oft verliebt – es hätte für doppelt so viele Jahre gereicht. Und was kam dann? Kein lauter Gong. Keine „Der Spaß ist jetzt vorbei“-Durchsage. Also hat man den Dreißigsten laut gefeiert und einfach weitergemacht. Viel gearbeitet, geheiratet, Kinder bekommen, und ist dadurch hier und da ganz von selbst organisierter, verantwortungsbewusster und vorausschauender geworden. Aber viele Freunde, die um die 40 sind, die sagen alle das Gleiche: Ich fühle mich gar nicht „so“. Neulich las ich in der Neon. Bei einer Umfrage war eine Frau abgebildet, das Alter in Klammern dahinter. Ich ordnete sie gleich in meinen gefühlten Altersbereich ein. Oder besser: mich in ihren. Sie war 28. Pfff, die zehn Jahre.
Eine freundlich gemeinte Erdung mussten eine paar Männer um die 40 erleben, die aus Spaß für einen Junggesellenabschied zum SonneMondSterne-Festival fuhren. Sie fühlten sich jung, dazugehörig, wahrscheinlich dachten sie in ihrem Glücks- und Alkoholrausch „Na also, geht doch.“ Bis ein junger Typ sie ansprach und meinte, er fände es total cool, dass sie in ihrem Alter noch so Gas geben würden.
Am Wochenende ging ich eine Treppe hinunter in ein Kellergewölbe und stand in der Dildofabrik. Aus den Boxen klang „I Follow Rivers“, und zwischen Wänden, wo früher Dildos und Gummipuppen hergestellt wurden, tanzten wir. Alle waren da, einige seit Jahren nicht gesehen – eigentlich hatte sich keiner verändert. Auch die Leute drum herum – wie immer, wie früher: Rausgebrezelte Frauen in hohen Stiefeln und tiefen Ausschnitten, szenige Schlurftypen, die sich in der Ecke nen Joint drehten oder mit Bart und Bier am Tresen lehnten. Zwei Freundinnen sagten an diesem Abend unabhängig von einander: „Wenn ich mich so umgucke … ich fühle mich gar nicht so alt“. Lag vielleicht daran, dass keine faltenfreien Supergranaten als Vergleichsmodelle herumliefen. Und ich freute mich. Klar kann man noch Partys feiern wie mit 20 oder 30. Und spätestens als sich die Tanzfläche zu Kate Bushs „Running Up That Hill“ füllte, war klar – das hier ist keine Twen-Party. Dass sich in meinen Augen niemand verändert hat, liegt vielleicht daran, dass wir gemeinsam alt werden.
Aber ist es nun peinlich, sich mit 40 zu betrinken, rumzulabern, zu tanzen und laut mitzusingen? Nö. Guckt doch keiner. Und selbst wenn. Schauspieler Wotan Wilke Möhring sagte mal: „Mit jedem Tag des Lebens vergrößert sich der Kreis derjenigen, die mich am Arsch lecken können.“ Definitiv ein Vorteil des Älterwerdens – man betrachtet einige Dinge gelassener.
Schauen wir der Wahrheit ins schlaffe Gesicht: Wir können uns soviel trimmen wie wir wollen, Cremes um die Augen spachteln oder an unseren Oberschenkeln herummassieren bis die Bürste bricht – wir sind nicht mehr in den Zwanzigern. Tut aber gar nicht weh. Denn eigentlich sind nur ein paar Falten, Verpflichtungen, Kilos oder Kinder hinzugekommen – und wir hören einfach nicht auf. Wir gehen immer noch auf Festivals, feiern Partys, albern mit Freunden herum, trinken, tanzen – und lachen so laut wir können. Unsere Vorbildfunktion dürfen wir dabei natürlich nicht vergessen – wir müssen den Zwanzigjährigen Hoffnung geben, dass man als Vierziger immer noch saucool sein kann. Meine Hoffnung ist, dass wir uns am Sechzigsten nicht zum Kaffeekränzchen treffen. Dann lieber in der Dildofabrik.