„Entschuldige, kannst Du mir mal kurz Dein Handy für einen Anruf leihen?“ Weiß ich nicht. Über so etwas habe ich noch nie nachgedacht. Leiht man einem Fremden sein Handy? Erstes Gefühl: Ablehnung. Kurz zucken folgende Sätze durch meinen Kopf: „Ich habe gar kein Handy.“ „Mein Handy? Habe ich leider nicht dabei.“ „Nee, tut mir leid, der Akku ist leer.“ Die Sekunde, die mein Zögern dauert, ist zu lang für eine Lüge bei Tageslicht. Ich schaue dem großen Mann mit Zottelhaar und Rauschebart in die Augen, er sagt: „Ich möchte mir von jemandem ein Tenorsaxofon leihen.“ Ich denke: „Hach, ein Musiker. Der ist bestimmt knapp bei Kasse“ und sage: „Klar, wenn’s nicht zu lange dauert.“ Er kramt in Centstücken, ich winke ab „Nee, lass mal stecken.“
Der Moment, in dem er nach meinem Mobiltelefon greift, dauert eine Ewigkeit und kurz wird mir etwas flau – wenn er jetzt damit abhaut, komme ich mit Kinderwagen nicht hinterher. Und den Wagen stehen lassen für ein Handy? Pfff.
„Ein schönes neues Jahr für Euch zwei“ zwinkert er mir zu während er auf das Abheben des Angerufenen wartet. „Hallo Lucas, hier ist Tom.“ Tom. Mädchenmäßig denke ich, dass das Schicksal sein muss. Nur nette Menschen können Tom heißen. Und überhaupt – wie war das? „Wo Menschen singen, da lass Dich nieder, böse Menschen kennen keine Lieder.“
Kurz klärt Tom mit Lucas das Thema Saxofon, ich fühle mich unglaublich großzügig und denke, dass alle Menschen etwas lockerer sein sollten. Einfach mal teilen, einfach mal weniger Spießer sein. Dann schaue ich auf seine Hände und sehe Ränder. Lange Nägel und noch mehr Ränder. Die Haare sehen auf einmal fettiger aus also noch vor drei Minuten und der Bart nicht lang, sondern ungepflegt. Das Handy bekomme ich mit einem Dankeschön zurück. Zuhause greife ich mir die Flasche Sterilium und verpasse meinem Telefon eine Abreibung. Bin eben doch ein Spießer.
Bestimmt ein Straßenmusikant ohne festen Wohnsitz.
Sehen Sie die Aktion trotz der ungepflegten Hände positiv. Und mit Spießigkeit hat das gar nichts zu tun. So geht es den meisten von uns.
Hmm .. ich stell mir gerade vor, wie erst Kollege Lucas mit sich gerungen haben muss, diesem Unappetitler ausgerechnet sein Tenorsaxophon zu leihen ..
Ich gestehe, ich hätte Tom zu gern spielen hören. (btw: War das grammatikalisch korrekt?).
Vielleicht hat er bei seinem späteren Konzert die Geschichte von der netten Lady im Kinderwagen erzählt, die ihm dankenswerterweise das Handy lieh – saxofonisch wie Miles Davis …
@Nömix – Ich glaube, Lucas kannte ihn, sonst hätte er nicht.
Sorry wegen der ungewaschenen Hände und Danke nochmal für das Telefonat.
@opa – habe ihm natürlich auch noch gesagt, dass er einen schönen namen hat. 🙂
@nömix – ja, wenn derjenige, dem ich so etwas leihe, nicht über ein eigenes mundstück verfügt, wäre das ja eh nix für mich.
@joshuatree – ich auch. wäre ich nicht so in hektik gewesen, weil ich mal wieder zu spät dran war, hätte ich auch gern erfahren, was er für musik macht. die konzertanekdote klingt nett. so etwas gibt’s aber wohl nur in filmen.
@tom – wie – du hast kein handy, dafür aber internetanschluss? was’n das?
Schönen Gruß an Tom auch. Ich mein natürlich den gewaschenen 🙂
Ich hab übrigens auch kein Handy 😉
„so etwas gibt’s aber wohl nur in filmen.“
Ich sehe das anders. Rohmer, Malle oder Truffaut haben doch gezeigt, dass banale, individuelle Realitäten durchaus Sinn machen und ihre feste Daseinsberechtigung haben. Oder frei nach „Theatro Mundi“: Du spielst selbst die Rolle im Leben, wie in einem Film.
Danke für die Anregung! Du hast mich an etwas erinnert. Schau mal da:
http://www.thilo-baum.de/
lounge/berlin/neumann/